Wikipedia.de tot wegen zweifelhafter einstweiliger Verfügung

News | 19. Januar 2006
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Wer das Inter­net gele­gentlich auch als Wis­sensquelle nutzt, der ken­nt die Wikipedia, die größte freie Enzyk­lopädie im Netz, die – trotz klein­er Schwächen hier und da – im Wesentlichen mit sehr engagierten und umfassenden Artikeln zu allem möglichen The­men Klarheit auch in eher obskure The­men bringt. Zumin­d­est über die bekan­nte Domain http://wikipedia.de/ ist die deutsche Wikipedia nicht mehr zu erre­ichen (allerd­ings sehr wohl noch über die Adresse http://de.wikipedia.org). Das alles auf­grund ein­er einst­weili­gen Ver­fü­gung des Amts­gerichts Berlin-Char­lot­ten­burg, die – so die Presse­berichte – die Weit­er­leitung der deutschen Domain auf die Inhalte der Wikipedia unter­sagt.

Wenn man den Bericht­en im Spiegel Glauben schenken darf, dann beruht diese Ver­fü­gung auf einem Stre­it der Wikipedia mit den Eltern des ver­stor­be­nen Hack­ers, der unter dem Pseu­do­nym „Tron“ bekan­nt war. Auf Wikipedia.de ließ (und auf http://de.wikipedia.org lässt sich nach wie vor) ein Artikel aufrufen, der den vollen bürg­er­lichen Namen Trons nen­nt. Dies wollen die Eltern nach den Presse­bericht­en unter Ver­weis auf die Per­sön­lichkeit­srechte ihres ver­stor­be­nen Sohns unterbinden. Da ist die deutsche Domain der zunächst nahe­liegen­ste – weil den schnellen Zugriff der hiesi­gen Jus­tiz unter­fal­l­ende – Anknüp­fungspunkt.

Wir kön­nen wenig zur Klärung der Frage beitra­gen, ob die Per­sön­lichkeit­srechte ein­er ver­stor­be­nen Per­son unbot­mäßig beein­trächtigt wer­den, wenn posthum der Nach­name genan­nt wird. Ohne nähere Ken­nt­nis des konkreten Falls ver­bi­et sich an dieser Stelle undif­feren­ziertes Ein­schla­gen auf eine Entschei­dung nach dem „find ich gut/find ich schlecht“-Prinzip, auch wenn uns die Argu­men­ta­tion der Eltern auf den ersten Blick doch eher zweifel­haft erscheint.

Unab­hängig von dieser konkreten Frage hal­ten wir es aber schlicht für einen aus­gewach­se­nen Skan­dal (wer das Law-Blog liest weiß, dass wir diesen Begriff nicht infla­tionär ver­wen­den), wenn auf­grund ein­er solchen Frage eine kom­plette Inter­net­seite vom Kaliber der Wikipedia „aus­geknipst“ wird. Es geht hier nicht um eine beliebige Home­page mit Urlaub­s­bildern, son­dern um eine Insti­tu­tion, welche die Art, in der wir heutzu­tage Wis­sen erwer­ben, ver­ar­beit­en und darstellen in aus­ge­sprochen vorteil­hafter Weise verän­dert.

Außer der Empörung des Nutzers gibt es für dieses harsche Urteil natür­lich auch juris­tis­che Argu­mente.

Eine einst­weilige Ver­fü­gung soll vor­läu­fig bis zu ein­er verbindlicheren Entschei­dung die Inter­essen eines wom­öglich Geschädigten schützen, den Sta­tus Quo sich­ern, in bes­timmten – sel­te­nen! – Fällen auch schon eine bes­timmte Leis­tung her­beiführen. Mehr nicht. Dem Inhalt ein­er solchen Ver­fü­gung sind aber Gren­zen gesteckt:

§ 938 ZPO — Inhalt der einst­weili­gen Ver­fü­gung

(1) Das Gericht bes­timmt nach freien Ermessen, welche Anord­nun­gen zur Erre­ichung des Zweck­es erforder­lich sind.

In dieser „Erforder­lichkeit“ steckt der juris­tis­che Grund­satz der Ver­hält­nis­mäßigkeit: die Ver­fü­gung darf nicht weit­er gehen als notwendig, sie darf fern­er nicht außer Ver­hält­nis zum Nachteil des Schuld­ners ste­hen. Für Men­schen, die der ZPO nicht glauben, fol­gert man den Grund­satz, dass jedes staatliche Han­deln ver­hält­nis­mäßig sein muss, rel­a­tiv zwan­g­los auch aus dem Rechtsstaat­sprinzip in Art. 20 Grundge­setz. Das alles ist keine hohe Kun­st oder beruht auf obskur­er, schw­er zu find­en­der und nur Spezial­is­ten zugänglichen Recht­sprechung des Ver­fas­sungs­gerichts, son­dern ist ein­fach­stes Handw­erk­szeug des Stu­den­ten der Rechte im ersten Semes­ter.

Wenn es nun tat­säch­lich darum geht, die Erre­ich­barkeit eines bes­timmten Artikels zu ver­hin­dern, ist mir nicht recht ersichtlich, inwiefern hier die kom­plette Abschal­tung ein­er Domain erforder­lich sein soll. Uns fie­len da Hand­lungsvari­anten mit deut­lich gerin­gerem Ein­griff­swert ein, etwa die Ent­fer­nung des konkreten Links oder des kom­plet­ten Beitrags bzw. die Unterbindung der Erre­ich­barkeit dieses Beitrags von der deutschen Domain aus. Uns ist klar, dass die Domain nur weit­er leit­et und die Inhalte als solche auf einem US-Serv­er liegen, aber die konkrete tech­nis­che oder organ­isatorische Umset­zung dieser Ver­fü­gung obläge der Ver­fü­gungs­geg­ner­in.

Mit dieser viel zu weit­en Ver­fü­gung wird nicht nur die Wikipedia völ­lig außer­halb jed­er Ver­hält­nis­mäßigkeit getrof­fen, son­dern auch die Nutzer der freien Enzyk­lopädie, deren Zahl wohl in die Hun­derd­tausende gehen dürfte. Uns scheint bei der derzeit­i­gen Sach­lage, dass sich in vor­liegen­der Entschei­dung die Unken­nt­nis der sach­lichen und tech­nis­chen Ver­hält­nisse im Inter­net mit ein­er Überdehnung des durch ZPO und Ver­fas­sung gesteck­ten rechtlichen Rah­mens paaren.

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