Wer das Internet gelegentlich auch als Wissensquelle nutzt, der kennt die Wikipedia, die größte freie Enzyklopädie im Netz, die – trotz kleiner Schwächen hier und da – im Wesentlichen mit sehr engagierten und umfassenden Artikeln zu allem möglichen Themen Klarheit auch in eher obskure Themen bringt. Zumindest über die bekannte Domain http://wikipedia.de/ ist die deutsche Wikipedia nicht mehr zu erreichen (allerdings sehr wohl noch über die Adresse http://de.wikipedia.org). Das alles aufgrund einer einstweiligen Verfügung des Amtsgerichts Berlin-Charlottenburg, die – so die Presseberichte – die Weiterleitung der deutschen Domain auf die Inhalte der Wikipedia untersagt.
Wenn man den Berichten im Spiegel Glauben schenken darf, dann beruht diese Verfügung auf einem Streit der Wikipedia mit den Eltern des verstorbenen Hackers, der unter dem Pseudonym „Tron“ bekannt war. Auf Wikipedia.de ließ (und auf http://de.wikipedia.org lässt sich nach wie vor) ein Artikel aufrufen, der den vollen bürgerlichen Namen Trons nennt. Dies wollen die Eltern nach den Presseberichten unter Verweis auf die Persönlichkeitsrechte ihres verstorbenen Sohns unterbinden. Da ist die deutsche Domain der zunächst naheliegenste – weil den schnellen Zugriff der hiesigen Justiz unterfallende – Anknüpfungspunkt.
Wir können wenig zur Klärung der Frage beitragen, ob die Persönlichkeitsrechte einer verstorbenen Person unbotmäßig beeinträchtigt werden, wenn posthum der Nachname genannt wird. Ohne nähere Kenntnis des konkreten Falls verbiet sich an dieser Stelle undifferenziertes Einschlagen auf eine Entscheidung nach dem „find ich gut/find ich schlecht“-Prinzip, auch wenn uns die Argumentation der Eltern auf den ersten Blick doch eher zweifelhaft erscheint.
Unabhängig von dieser konkreten Frage halten wir es aber schlicht für einen ausgewachsenen Skandal (wer das Law-Blog liest weiß, dass wir diesen Begriff nicht inflationär verwenden), wenn aufgrund einer solchen Frage eine komplette Internetseite vom Kaliber der Wikipedia „ausgeknipst“ wird. Es geht hier nicht um eine beliebige Homepage mit Urlaubsbildern, sondern um eine Institution, welche die Art, in der wir heutzutage Wissen erwerben, verarbeiten und darstellen in ausgesprochen vorteilhafter Weise verändert.
Außer der Empörung des Nutzers gibt es für dieses harsche Urteil natürlich auch juristische Argumente.
Eine einstweilige Verfügung soll vorläufig bis zu einer verbindlicheren Entscheidung die Interessen eines womöglich Geschädigten schützen, den Status Quo sichern, in bestimmten – seltenen! – Fällen auch schon eine bestimmte Leistung herbeiführen. Mehr nicht. Dem Inhalt einer solchen Verfügung sind aber Grenzen gesteckt:
§ 938 ZPO — Inhalt der einstweiligen Verfügung
(1) Das Gericht bestimmt nach freien Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zweckes erforderlich sind.
In dieser „Erforderlichkeit“ steckt der juristische Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: die Verfügung darf nicht weiter gehen als notwendig, sie darf ferner nicht außer Verhältnis zum Nachteil des Schuldners stehen. Für Menschen, die der ZPO nicht glauben, folgert man den Grundsatz, dass jedes staatliche Handeln verhältnismäßig sein muss, relativ zwanglos auch aus dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Grundgesetz. Das alles ist keine hohe Kunst oder beruht auf obskurer, schwer zu findender und nur Spezialisten zugänglichen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, sondern ist einfachstes Handwerkszeug des Studenten der Rechte im ersten Semester.
Wenn es nun tatsächlich darum geht, die Erreichbarkeit eines bestimmten Artikels zu verhindern, ist mir nicht recht ersichtlich, inwiefern hier die komplette Abschaltung einer Domain erforderlich sein soll. Uns fielen da Handlungsvarianten mit deutlich geringerem Eingriffswert ein, etwa die Entfernung des konkreten Links oder des kompletten Beitrags bzw. die Unterbindung der Erreichbarkeit dieses Beitrags von der deutschen Domain aus. Uns ist klar, dass die Domain nur weiter leitet und die Inhalte als solche auf einem US-Server liegen, aber die konkrete technische oder organisatorische Umsetzung dieser Verfügung obläge der Verfügungsgegnerin.
Mit dieser viel zu weiten Verfügung wird nicht nur die Wikipedia völlig außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit getroffen, sondern auch die Nutzer der freien Enzyklopädie, deren Zahl wohl in die Hunderdtausende gehen dürfte. Uns scheint bei der derzeitigen Sachlage, dass sich in vorliegender Entscheidung die Unkenntnis der sachlichen und technischen Verhältnisse im Internet mit einer Überdehnung des durch ZPO und Verfassung gesteckten rechtlichen Rahmens paaren.
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