Arbeitgeber dürfen Rentennähe bei betriebsbedingten Kündigungen berücksichtigen

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Arbeitsrecht | 28. September 2023
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Muss ein Unter­neh­men betriebs­be­ding­te Kün­di­gun­gen aus­spre­chen, muss es per Sozi­al­aus­wahl ent­schei­den, wem es kün­digt. Doch sind älte­re Arbeit­neh­mer, die kurz vor der Ren­te ste­hen, beson­ders schutz­be­dürf­tig oder brau­chen sie sogar weni­ger Schutz als jün­ge­re? Dr. Chris­ti­an Oster­mai­er erklärt die Anfor­de­run­gen der Recht­spre­chung an eine wirk­sa­me Kün­di­gung. 

Bei der Sozi­al­aus­wahl stellt sich häu­fig die Fra­ge, inwie­fern die Ren­ten­nä­he berück­sich­tigt wer­den kann. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) hat sei­ne Recht­spre­chung zur Sozi­al­aus­wahl unter Berück­sich­ti­gung der sog. Ren­ten­nä­he zuletzt im Dezem­ber 2022 wei­ter­ent­wi­ckelt darf (BAG, Urt. v. 08.12. 2022, Az. 6 AZR 31/22). Seit­dem haben Arbeit­ge­ber dabei mehr Spiel­raum.

In dem vom BAG ent­schie­de­nen Fall wur­de einer im Jahr 1957 gebo­re­nen Arbeit­neh­me­rin im März 2020 gekün­digt. Sie war seit 1972 bei dem mitt­ler­wei­le insol­ven­ten Arbeit­ge­ber beschäf­tigt gewe­sen. Die Kün­di­gung erfolg­te im Rah­men einer betriebs­be­ding­ten Umstruk­tu­rie­rung, die auf einem Inter­es­sen­aus­gleich mit Namens­lis­te basier­te. Der Insol­venz­ver­wal­ter argu­men­tier­te, dass die Arbeit­neh­me­rin in ihrer Ver­gleichs­grup­pe die am wenigs­ten schutz­wür­di­ge Per­son sei, da sie kurz nach Been­di­gung ihres Arbeits­ver­hält­nis­ses die Alters­ren­te für beson­ders lang­jäh­rig Ver­si­cher­te bean­tra­gen kön­ne.

Nach­dem wei­te­re Ver­hand­lun­gen über einen Inter­es­sen­aus­gleich mit Namens­lis­te mit dem Betriebs­rat zur Betriebs­still­le­gung geführt hat­ten, kün­dig­te der Insol­venz­ver­wal­ter der Arbeit­neh­me­rin vor­sorg­lich erneut. Die Arbeit­neh­me­rin klag­te gegen bei­de Kün­di­gun­gen und war in den Vor­in­stan­zen erfolg­reich. Doch das BAG muss­te die Ange­le­gen­heit abschlie­ßend klä­ren.

 

BAG: Ren­ten­nah heißt nicht immer schutz­be­dürf­tig

Deutsch­lands höchs­te Arbeits­rich­ter ent­schie­den, dass die Ren­ten­nä­he der Arbeit­neh­me­rin bei der Sozi­al­aus­wahl im Rah­men des Kri­te­ri­ums „Lebens­al­ter“ berück­sich­tigt wer­den .

Der Zweck der Sozi­al­aus­wahl bestehe, so das BAG, dar­in, der Per­son zu kün­di­gen, die sozi­al am wenigs­ten schutz­be­dürf­tig ist. Dabei sei das Kri­te­ri­um „Lebens­al­ter“ ambi­va­lent. So steigt die sozia­le Schutz­be­dürf­tig­keit in der Regel mit dem Alter an, da älte­re Arbeit­neh­mer oft Schwie­rig­kei­ten haben, auf dem Arbeits­markt wie­der Fuß zu fas­sen.

Aller­dings betont der 6. Senat des BAG auch, dass die­se Schutz­be­dürf­tig­keit wie­der­um abnimmt, wenn der Arbeit­neh­mer ent­we­der inner­halb von zwei Jah­ren nach dem Ende des Arbeits­ver­hält­nis­ses eine Alters­ren­te ohne Abzü­ge erhal­ten kann oder bereits eine sol­che Ren­te bezieht. Die­se Umstän­de kön­nen Arbeit­ge­ber also beim Aus­wahl­kri­te­ri­um „Lebens­al­ter“ zum Nach­teil des Arbeit­neh­mers berück­sich­ti­gen.

Die ursprüng­li­che Kün­di­gung der kla­gen­den Arbeit­neh­me­rin erklär­ten die Rich­ter den­noch für unwirk­sam, da die Kün­di­gungs­ent­schei­dung allein auf Basis der Ren­ten­nä­he getrof­fen wor­den war, ohne die ande­ren Aus­wahl­kri­te­ri­en wie Betriebs­zu­ge­hö­rig­keit und Unter­halts­pflich­ten ange­mes­sen zu berück­sich­ti­gen. Die vor­sorg­li­che spä­te­re Kün­di­gung des Insol­venz­ver­wal­ter nach der Still­le­gung des Betriebs sah das BAG aber als wirk­sam an.

 

Aus­nah­me für schwer­be­hin­der­te Arbeit­neh­mer?

In Bezug auf das Kri­te­ri­um „Lebens­al­ter“ haben Arbeit­ge­ber und Betriebs­par­tei­en also künf­tig mehr Hand­lungs­spiel­raum und kön­nen die­sen Punkt auch zum Nach­teil des Arbeit­neh­mers berück­sich­ti­gen. So kön­nen Fak­to­ren aus­ge­wo­gen berück­sich­tigt wer­den, um einen best­mög­li­chen Arbeit­neh­mer­schutz sicher­zu­stel­len.

Die Alters­ren­te für schwer­be­hin­der­te Men­schen (§§ 37, 236a SGB VI) darf dabei aller­dings nicht zu Las­ten der zu kün­di­gen­den Arbeit­neh­mer berück­sich­tigt wer­den. In die­sem Zusam­men­hang scheint das BAG die Linie des Euro­päi­schen Gerichts­hofs (EuGH) fort­zu­set­zen. Schon 2012 stell­te der EuGH (Urt. v. 06.12.2012, Az. C‑152/11) fest, dass es unzu­läs­sig ist, eine gerin­ge­re Sozi­al­plan­ab­fin­dung fest­zu­le­gen, weil der Arbeit­neh­mer vor­zei­tig eine Alters­ren­te wegen Behin­de­rung bezie­hen kann.

Es ist jedoch anzu­neh­men, dass auch die Ein­stu­fung eines schwer­be­hin­der­ten Arbeit­neh­mers als „ren­ten­nah“ nach wie vor zuläs­sig und berück­sich­ti­gungs­fä­hig ist, sofern sie nicht im Zusam­men­hang mit der spe­zi­el­len Ren­te für schwer­be­hin­der­te Men­schen erfolgt.

 

Prak­ti­sche Aus­wir­kun­gen und Pra­xis­tipp

Die­se Ent­schei­dung gibt Arbeit­ge­bern kla­re Leit­li­ni­en dafür, wie sie die „Ren­ten­nä­he“ bei der Sozi­al­aus­wahl berück­sich­ti­gen kön­nen. Der fest­ge­leg­te Zeit­raum von zwei Jah­ren zwi­schen dem Ende des Arbeits­ver­hält­nis­ses und dem Ren­ten­be­ginn ist sicher sehr eng bemes­sen, aber ein Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung. Wich­tig ist dabei, zu beach­ten, dass nicht allein die Ren­ten­nä­he den Aus­schlag geben darf, son­dern auch Betriebs­zu­ge­hö­rig­keit und Unter­halts­pflich­ten sowie Son­der­kün­di­gungs­schutz ange­mes­sen berück­sich­tigt wer­den.

 

Dr. Chris­ti­an Oster­mai­er ist Part­ner bei SNP Schla­wi­en Part­ner­schaft mbB. Er berät Unter­neh­men aller Grö­ßen, meist mit­tel­stän­di­sche Unter­neh­men, sowie deren Gesell­schaf­ter in allen Fra­gen des Gesell­schafts­rechts, ins­be­son­de­re auch bei Unter­neh­mens­trans­ak­tio­nen, und des Arbeits­rechts, hier u.a. zu betriebs­ver­fas­sungs­recht­li­chen Fra­gen, wie dem Abschluss von Betriebs­ver­ein­ba­run­gen. Dane­ben berät Dr. Oster­mai­er lei­ten­de Ange­stell­te, Geschäfts­füh­rer und Vor­stän­de. Er ver­fügt über umfang­rei­che Erfah­rung in den Berei­chen Bio­tech­no­lo­gie, Soft­ware, Han­del und Ver­si­che­run­gen. https://de.linkedin.com/in/ostermaier-christian-898a3027

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