Muss ein Unternehmen betriebsbedingte Kündigungen aussprechen, muss es per Sozialauswahl entscheiden, wem es kündigt. Doch sind ältere Arbeitnehmer, die kurz vor der Rente stehen, besonders schutzbedürftig oder brauchen sie sogar weniger Schutz als jüngere? Dr. Christian Ostermaier erklärt die Anforderungen der Rechtsprechung an eine wirksame Kündigung.
Bei der Sozialauswahl stellt sich häufig die Frage, inwiefern die Rentennähe berücksichtigt werden kann. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat seine Rechtsprechung zur Sozialauswahl unter Berücksichtigung der sog. Rentennähe zuletzt im Dezember 2022 weiterentwickelt darf (BAG, Urt. v. 08.12. 2022, Az. 6 AZR 31/22). Seitdem haben Arbeitgeber dabei mehr Spielraum.
In dem vom BAG entschiedenen Fall wurde einer im Jahr 1957 geborenen Arbeitnehmerin im März 2020 gekündigt. Sie war seit 1972 bei dem mittlerweile insolventen Arbeitgeber beschäftigt gewesen. Die Kündigung erfolgte im Rahmen einer betriebsbedingten Umstrukturierung, die auf einem Interessenausgleich mit Namensliste basierte. Der Insolvenzverwalter argumentierte, dass die Arbeitnehmerin in ihrer Vergleichsgruppe die am wenigsten schutzwürdige Person sei, da sie kurz nach Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses die Altersrente für besonders langjährig Versicherte beantragen könne.
Nachdem weitere Verhandlungen über einen Interessenausgleich mit Namensliste mit dem Betriebsrat zur Betriebsstilllegung geführt hatten, kündigte der Insolvenzverwalter der Arbeitnehmerin vorsorglich erneut. Die Arbeitnehmerin klagte gegen beide Kündigungen und war in den Vorinstanzen erfolgreich. Doch das BAG musste die Angelegenheit abschließend klären.
BAG: Rentennah heißt nicht immer schutzbedürftig
Deutschlands höchste Arbeitsrichter entschieden, dass die Rentennähe der Arbeitnehmerin bei der Sozialauswahl im Rahmen des Kriteriums „Lebensalter“ berücksichtigt werden .
Der Zweck der Sozialauswahl bestehe, so das BAG, darin, der Person zu kündigen, die sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. Dabei sei das Kriterium „Lebensalter“ ambivalent. So steigt die soziale Schutzbedürftigkeit in der Regel mit dem Alter an, da ältere Arbeitnehmer oft Schwierigkeiten haben, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen.
Allerdings betont der 6. Senat des BAG auch, dass diese Schutzbedürftigkeit wiederum abnimmt, wenn der Arbeitnehmer entweder innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses eine Altersrente ohne Abzüge erhalten kann oder bereits eine solche Rente bezieht. Diese Umstände können Arbeitgeber also beim Auswahlkriterium „Lebensalter“ zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen.
Die ursprüngliche Kündigung der klagenden Arbeitnehmerin erklärten die Richter dennoch für unwirksam, da die Kündigungsentscheidung allein auf Basis der Rentennähe getroffen worden war, ohne die anderen Auswahlkriterien wie Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten angemessen zu berücksichtigen. Die vorsorgliche spätere Kündigung des Insolvenzverwalter nach der Stilllegung des Betriebs sah das BAG aber als wirksam an.
Ausnahme für schwerbehinderte Arbeitnehmer?
In Bezug auf das Kriterium „Lebensalter“ haben Arbeitgeber und Betriebsparteien also künftig mehr Handlungsspielraum und können diesen Punkt auch zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. So können Faktoren ausgewogen berücksichtigt werden, um einen bestmöglichen Arbeitnehmerschutz sicherzustellen.
Die Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) darf dabei allerdings nicht zu Lasten der zu kündigenden Arbeitnehmer berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang scheint das BAG die Linie des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) fortzusetzen. Schon 2012 stellte der EuGH (Urt. v. 06.12.2012, Az. C‑152/11) fest, dass es unzulässig ist, eine geringere Sozialplanabfindung festzulegen, weil der Arbeitnehmer vorzeitig eine Altersrente wegen Behinderung beziehen kann.
Es ist jedoch anzunehmen, dass auch die Einstufung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers als „rentennah“ nach wie vor zulässig und berücksichtigungsfähig ist, sofern sie nicht im Zusammenhang mit der speziellen Rente für schwerbehinderte Menschen erfolgt.
Praktische Auswirkungen und Praxistipp
Diese Entscheidung gibt Arbeitgebern klare Leitlinien dafür, wie sie die „Rentennähe“ bei der Sozialauswahl berücksichtigen können. Der festgelegte Zeitraum von zwei Jahren zwischen dem Ende des Arbeitsverhältnisses und dem Rentenbeginn ist sicher sehr eng bemessen, aber ein Schritt in die richtige Richtung. Wichtig ist dabei, zu beachten, dass nicht allein die Rentennähe den Ausschlag geben darf, sondern auch Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten sowie Sonderkündigungsschutz angemessen berücksichtigt werden.
Dr. Christian Ostermaier ist Partner bei SNP Schlawien Partnerschaft mbB. Er berät Unternehmen aller Größen, meist mittelständische Unternehmen, sowie deren Gesellschafter in allen Fragen des Gesellschaftsrechts, insbesondere auch bei Unternehmenstransaktionen, und des Arbeitsrechts, hier u.a. zu betriebsverfassungsrechtlichen Fragen, wie dem Abschluss von Betriebsvereinbarungen. Daneben berät Dr. Ostermaier leitende Angestellte, Geschäftsführer und Vorstände. Er verfügt über umfangreiche Erfahrung in den Bereichen Biotechnologie, Software, Handel und Versicherungen. https://de.linkedin.com/in/ostermaier-christian-898a3027
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Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht
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