Was ist Gerechtigkeit?

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Häppchen & Ausgangslage

Mit pen­e­tran­ter Regelmäßigkeit taucht in Diskus­sion von, bei, mit und um Juris­ten die Frage auf, ob man sich eigentlich im täglichen Geschäfts­be­trieb nur um Para­grafen und Geset­zes­lück­en küm­mere („Winke­lad­vokatur“) oder auch das Große und Ganze im Blick behalte: die Gerechtigkeit. Und irgend­wie fühlt man sich in solchen Sit­u­a­tio­nen – in denen man übri­gens meist ein Käse­häp­pchen in der einen, ein stilles Min­er­al­wass­er in der anderen Hand sowie den Mund hal­b­voll hat – wie die große Koali­tion, die auch jed­er bedrängt, sie möge nicht immer nur an alltäglichen Kleinigkeit­en herumwursteln, son­dern sich bitte der sys­tem­a­tisch-klaren Lin­ie wid­men. Das ist nicht angenehm, zumal man als Anwalt nicht mal eben so die Steuern erhöhen oder ein paar Krankenkassen schließen kann, um darauf fol­gend ein Bier in der VIP-Lounge eines WM-Sta­dions zu trinken und den Kaiser zu herzen.

Auf die Frage nach der Gerechtigkeit gibt es viele völ­lig richtige und den­noch unbe­friedi­gende Antworten. Etwa die, dass man speziell als Anwalt zwar Organ der Recht­spflege sei, damit schon der Gerechtigkeit irgend­wie verpflichtet, neben­bei aber auch Inter­essen­vertreter. Und als solch­er bege­ht man, wenn man eben nicht nach dem besten Weg für den Man­dan­ten sucht, einen Parteiver­rat und wan­dert im besten Fall ins Gefäng­nis. Als Richter wiederum ist man schon recht zufrieden, wenn man zumin­d­est prog­nos­tizier­bare Entschei­dun­gen pro­duziert, das Recht tech­nisch richtig anwen­det und damit Rechtssicher­heit und Rechts­frieden erzeugt. Das ist näm­lich schon eine ganze Menge.

Aber das beant­wortet die Frage natür­lich nur ungenü­gend.

Ich per­sön­lich ziehe es in solchen Sit­u­a­tio­nen vor, mit der Auf­forderung zu antworten, man möge doch bitte – damit ich aus­re­ichend Stel­lung nehmen kann – erst ein­mal „Gerechtigkeit“ genau definieren. Meist hat man damit genü­gend Luft, noch einen leicht­en Salat vom Buf­fet zu holen und dann schnell das The­ma zu wech­seln.

Die Frage ste­ht damit weit­er im Raum. Fundierte Antworten sind rar. Wer mal ein Semes­ter Philoso­phie studiert hat, am richti­gen Grund­la­gen­schein im Juras­tudi­um arbeit­ete oder ein­fach nur gut googlen kann, der weiß immer­hin, dass sich schon Pla­ton an ein­er Antwort ver­sucht hat und nach vielem Nach­denken zum Schluss kam, man möge doch jeden so behan­deln, wie es ihm zuste­he. Das ist übri­gens nach wie vor die vernün­ftig­ste Gerechtigkeits­de­f­i­n­i­tion.

Aber wirk­lich nutzen tut sie nichts. Man kann sie ein­er­seits genau­so gut falsch beset­zen wie jede andere Leer­formel – was die Nation­al­sozial­is­ten ja vorex­erziert haben, indem sie „Jedem das Seine“ an das Tor zum KZ Buchen­wald schrieben. Man kann sich aber vor allen Din­gen darüber stre­it­en, was denn das „Seine“ sein solle. Perel­man etwa (Chaim Perel­man, „Über die Gerechtigkeit“) führt auf (für die inhaltliche Gerechtigkeit übri­gens, nicht die Ver­hand­lungs­gerechtigkeit; die Kom­mentare in den Klam­mern sind nicht von ihm):

  • Jedem das Gle­iche (klingt nach Kom­mu­nis­mus)
  • Jedem gemäß seinen Ver­di­en­sten (was dann wieder irgend­je­mand bew­erten muss)
  • Jedem nach seinen Werken (das kön­nte – wenn man die Werke in Geld aus­drück­en kann – neolib­er­al sein)
  • Jedem nach seinen Bedürfnis­sen (das war ein Slo­gan, der damals Losung hieß, der SED)
  • Jedem gemäß seinem Rang (fin­steres Mit­te­lal­ter)
  • Jedem gemäß dem ihm durch das Gesetz zugeteil­ten (für die Pos­i­tivis­ten unter uns. Schließt die Par­ty-Frage aber ziem­lich kurz).

Was bringt uns das?

Immer­hin hat man so die Diskus­sion eine Schraube höher gedreht. Her­aus­gear­beit­et ist, dass man Ver­gle­ich­bares gle­ich behan­deln soll – so ste­ht es ja auch im Grundge­setz. Man stre­it­et sich jet­zt nur noch darum, was denn bitte „ver­gle­ich­bar“ heißt. Denn es ist unschw­er zu erken­nen, dass die Antworten der Liste nicht nur zu unter­schiedlichen Ergeb­nis­sen führen, son­dern sich teil­weise schlicht gegen­seit­ig auss­chließen. Man kommt damit nicht umhin, aus diesen Vor­gaben auszuwählen, oder jeden­falls einen passenden Mix zu bilden.

Aber wie kann diese Auswahl unter den unter­schiedlichen Ansätzen die Gerechtigkeit betr­e­f­fend geschehen? Offen­bar doch nur, indem man auf Werte zurück­greift. Da man aber Gerechtigkeit will und nicht Willkür, müssen das all­ge­mein­verbindlichen Werte sein. Wie kommt man an die? Perel­man (aaO.) meint:

Es ist so, dass für jede Gesellschaft und für jeden Geist Hand­lun­gen, Han­del­nde, Glauben­shal­tun­gen und Werte beste­hen, welche in einem bes­timmten Augen­blick rück­halt­los gebil­ligt und nicht mehr disku­tiert wer­den, die man daher nicht zu recht­fer­ti­gen braucht. Diese (…) liefern Präze­den­zfälle, Mod­elle, Überzeu­gun­gen und Nor­men (…).

So etwas kon­nte man (übri­gens in sein­er Fas­sung schon sehr vor­sichtig for­muliert!) in ein­er – nach heuti­gen Maßstäben – uni­for­men Gesellschaft im Europa Mitte des 20. Jahrhun­derts sich­er schreiben. Heute kön­nte man das nicht mehr. Der Ansatz passt schlicht nicht auf eine Gesellschaft mit zunehmend dis­parat­en Strö­mungen, Sub­kul­turen, Milieus. Es gibt keine gemein­same Basis. Da ist nichts, das als Grund­lage dienen kann. Die Schei­delin­ie zwis­chen den unter­schiedlichen Werten ver­läuft dabei näher als wir denken, oder genauer: es gibt sehr viel mehr Schei­delin­ien, als man gemein­hin zu glauben meint, was dem Erken­nt­niswert des Begriffs der „Schei­delin­ie“ übri­gens kaum gut tun kann. Wenn dann etwa ver­sucht wird, gemein­same „west­liche“ Werte gegen die gefühlte Bedro­hung durch fun­da­men­tal­is­tis­che Glaubenssys­teme in Stel­lung zu brin­gen, dann stellen wir, wenn wir um uns schauen und meinen, feste Stel­lun­gen und klare Fron­ten zu erblick­en, schnell fest, dass die gar nicht da sind. Dass die Amerikan­er einen ganz anderen Frei­heits­be­griff haben als die Europäer. Und auch „Demokratie“ sein­er­seits erst ein­mal der Def­i­n­i­tion bedürfte. Wobei übri­gens auch „Amerikan­er“ und „Europäer“ nur aggregierte, unscharfe und nichts sagende Beze­ich­nun­gen für wank­ende und wech­sel­nde Mehrheit­en mit bes­timmten geo­graphis­chen Schw­er­punk­ten sind.

Natür­lich kann man sich auf den Punkt der „poli­tis­chen Gerechtigkeit“ zurückziehen. Somit davon aus­ge­hen, dass gerecht ist, was nach legit­imer Wil­lens­bil­dung des Volkes eben als gerecht ange­se­hen wird. Aber kann etwas, das heute gerecht ist, denn plöt­zlich, nach vier Jahren, nach ein­er neuen Wahl, plöt­zlich ungerecht sein? Heißt so ver­standene Gerechtigkeit nicht, den Begriff seines eigentlichen Sinns zu entleeren?

Wertediskussionen

In der Tat sieht Perel­man (aaO.) das Prob­lem. Und so führt er neben der allzu vergänglichen poli­tis­chen noch die philosophis­che Gerechtigkeit ein. Dort geht es um uni­ver­sale, all­ge­mein gültige Werte, die für alle – die gesamte Men­schheit – verbindlich sind. Wenn man da ist, ist man bei Kant, dem bestirn­ten Him­mel und dem moralis­chen Sit­tenge­setz. Ersatzweise kann man – je nach Glauben­srich­tung – auch die gold­ene Regel oder die Vorschläge des neuen Tes­ta­ments ein­set­zen. Oder ein­er anderen heili­gen Schrift. Oder Heil­slehre. Oder Irgend­was.

Werte sind ver­schieden, rel­a­tiv.

Das kann man dur­chaus, wie es der Papst tut, angreifen und ver­dammen. Die katholis­che Kirche tut sich da leicht, denn sie zieht ihre schiere Daseins­berech­ti­gung aus der Tat­sache, unum­stößliche Wahrheit­en und damit auch die richti­gen – all­ge­me­ingülti­gen und uni­ver­salen – Werte zu besitzen. Kri­tis­chere Geis­ter haben es da schw­er­er, etwa Engisch („Auf der Suche nach Gerechtigkeit“), wenn er sich zum Wert­erel­a­tivis­mus beken­nt.

Ja und?

Lässt sich bei dieser Aus­gangslage der Begriff „Gerechtigkeit“ mehr als nur vage aus­füllen? Ja und nein. Immer­hin weiß man auf diese Weise, was Gerechtigkeit bedeuten kann, was man darunter zu ver­ste­hen hat im Sinne ein­er Übereinkun­ft über die for­male Struk­tur, die Form des Begriffes. Nur weiß man immer noch fast nichts über seinen inneren Gehalt. „Gerechtigkeit“ ist keine Leer­formel mehr in dem Sinn, dass man nicht wüsste, worüber man eigentlich redet. Aber sie bleibt rel­a­tiv. Es stellt sich her­aus, dass es nicht „die“ Gerechtigkeit gibt, son­dern nur Zustände (oder auch: Ver­hal­tensweisen, Ver­fahren, Ergeb­nisse), die man je nach Wertvorstel­lun­gen als gerecht empfind­en mag oder auch nicht.

Anders gesagt: man kann keine Diskus­sion dahinge­hend führen, dass ein bes­timmter Vor­gang gerecht oder ungerecht sei. Man kann nur sagen, dass man ihn für gerecht oder ungerecht halte.

Was tun?

Man kann mit guten Grün­den der Mei­n­ung sein, dass das zuwenig ist. Dann gibt es wohl zwei Möglichkeit­en.

Entwed­er man gibt klar zu erken­nen, dass man „Gerechtigkeit“ im Sinn der poli­tis­chen Gerechtigkeit ver­ste­ht. Also das für gerecht hält, was die (poli­tis­che) Mehrheit als solch­es ansieht. Dann aber kann man dem Juris­ten nicht vor­w­er­fen, dass er sich erst ein­mal am geschriebe­nen Gesetz ori­en­tiert und damit arbeit­et, es als Maßstab seines Han­delns nimmt. Denn eben dieses Gesetz hat ja eine (poli­tis­che) Mehrheit beschlossen. Es „ist“ somit gerecht. Es gibt dann keine Ori­en­tierung am „großen Ganzen“, an ein­er überge­set­zlichen Gerechtigkeit.

Oder man muss fair zu sich selb­st und den anderen sein und den philosophisch gebraucht­en Begriff „Gerechtigkeit“ unter­füt­tern; klar zu erken­nen geben, welche Gerechtigkeit an welchen Maßstäben gemessen man eigentlich meint. Natür­lich macht das eine Diskus­sion sper­rig und den Begriff unhan­dlich, weswe­gen er ins­beson­dere bei 20 Sekun­den Poli­tik­er-State­ments ver­mieden wer­den sollte.

Trifft man also auf jeman­den, der den Begriff ohne eine solche Ein­gren­zung benutzt, dann disku­tiert man alter­na­tiv oder kumu­la­tiv

  • mit jeman­dem, der es schlicht nicht bess­er weiß, keine Gedanken an den Begriff ver­wen­det,
  • mit jeman­dem, der davon aus­ge­ht oder jeden­falls hofft, dass sich die Art von Gerechtigkeit, die gemeint ist, aus dem Kon­text ergibt oder und am schlimm­sten,
  • mit einem Dem­a­gogen.

Weiterlesen

Larenz, „Meth­o­d­en­lehre der Rechtswis­senschaft“
Zip­pelius, „Recht­sphiloso­phie“

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