Werden bei einer verhandelten Mitbestimmung in einer umgewandelten SE die Rechte der Gewerkschaften zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern gemäß dem deutschen Mitbestimmungsrecht nicht gewahrt, ist die Beteiligungsvereinbarung insoweit unwirksam. Eine erste Einschätzung zum Urteil von Dr. Wolfgang Heinze.
Bis 2014 hatte die SAP AG einen paritätisch besetzten 16-köpfigen Aufsichtsrat. Die zwei Vertreter der Gewerkschaften wurden gemäß deutschem Recht unabhängig von den übrigen sechs Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer gewählt.
Im Rahmen der Umwandlung in eine SE wurde zunächst ein 18-köpfiger Aufsichtsrats eingesetzt. Für diesen sah die sog. Beteiligungsvereinbarung, die nach Verhandlungen von Arbeitnehmer- und Unternehmensseite u.a. die Unternehmensmitbestimmung im Aufsichtsrat regelt, ein Vorschlagsrecht für einen Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer zugunsten der im Konzern repräsentierten Gewerkschaften sowie einen getrennten Wahlgang für diese vor.
Sollte der der Aufsichtsrat, so die Vereinbarung, auf 12 Mitglieder verkleinert werden, sollten diese Rechte zugunsten der Gewerkschaften entfallen. Diese sollten dann nur noch Wahlvorschläge für einen Teil der auf Deutschland entfallenden Sitze unterbreiten können, ein eigenständiger Wahlgang für die Gewerkschaftsvertreter war nicht mehr vorgesehen. Damit war für einen 12-köpfigen Aufsichtsrat nicht mehr sichergestellt, dass zum Kreis der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat auch Gewerkschaftsvertreter gehören.
Das Arbeitsgericht wies die Klage u.a. einiger Gewerkschaften gegen die Beteiligungsvereinbarung ab, das Bundesarbeitsgericht jedoch legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage nach der Vereinbarkeit der Beteiligungsvereinbarung mit Art. 4 Abs. 4 der SE-Richtlinie vor. Diese Norm verlangt, dass die Beteiligungsvereinbarung bei einer Umwandlung in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleisten muss, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll.
Die Gewerkschaften sind der Ansicht, das ausschließliche, durch einen getrennten Wahlgang abgesicherte Vorschlagsrecht für eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat zugunsten der Gewerkschaften sei ein kennzeichnendes Verfahrenselement der Unternehmensmitbestimmung in Deutschland. Dieses müsse auch bei einer Umwandlung in eine SE qualitativ gleichwertig gewährleistet werden.
Ganz ähnlich argumentiert nun der Gerichtshof. Die Richter in Luxemburg bestätigen, dass die Beteiligungsvereinbarung nach der Umwandlung einen Teil der Arbeitnehmervertreter den Gewerkschaften zuweisen und für die von ihnen vorgeschlagenen Kandidaten einen getrennten Wahlgang vorsehen muss, wenn auch das deutsche Recht ein solches Recht und einen solchen getrennten Wahlgang vorschreibt. Der EuGH sieht in dem besonderen Wahlgang für einen Teil der Arbeitnehmervertreter eine der maßgeblichen Komponenten der deutschen Mitbestimmung, die bei einer Umwandlung einer AG in eine SE beibehalten werden müssen und auch nicht durch die Beteiligungsvereinbarung abgewandelt werden können. Das Vorschlagsrecht der Gewerkschaften und der getrennte Wahlgang seien nach deutschem Recht kennzeichnend und zwingend für die Unternehmensmitbestimmung. Dieses Schutzniveau dürfe bei einer Umwandlung auch durch die Beteiligungsvereinbarung nicht unterschritten werden (EuGH, Urt. v. 18.10.2022; Az. C‑677/20).
Der Gerichtshof geht noch einen Schritt weiter und stellt – obiter dicta — klar, dass das Recht, einen bestimmten Anteil der Kandidaten für die Wahlen der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat einer durch Umwandlung gegründeten SE vorzuschlagen, nicht nur den deutschen Gewerkschaften vorbehalten sein darf. Es müsse vielmehr auf alle in der SE, ihren Tochtergesellschaften und Betrieben vertretenen Gewerkschaften ausgeweitet werden. Nur so könne die Gleichheit der Gewerkschaften gewährleistet werden.
Insgesamt interpretiert der EuGH den Schutzcharakter der SE-Richtlinie sehr weitgehend, was deutlich zu Lasten der Verhandlungsautonomie des besonderen Verhandlungsgremiums bei einer Gründung durch Umwandlung geht.
Die Wahlverfahrensregelungen des deutschen Mitbestimmungsrechts als wesentliche Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung unterstellt, die das Ausmaß der Mitbestimmung in der umzuwandelnden Gesellschaft bestimmen, stellt sich eine weitere Frage. Das deutsche Mitbestimmungsrecht sieht vor, dass ein unternehmensangehöriger Arbeitnehmervertreter ein leitender Angestellter sein muss, und verlangt für dieses Aufsichtsratsmitglied einen gesonderten Wahlvorschlag. Für die Wahl gelten ebenfalls besondere Regelungen, die eine Repräsentanz der leitenden Angestellten im Aufsichtsrat sicherstellen. Überträgt man den Grundgedanken der Entscheidung des EuGH auf diese Regelungen, ist zu erwarten, dass sich Gerichte demnächst auch damit werden beschäftigen müssen, wie leitende Angestelltenvertreter nach der Umwandlung in eine SE repräsentiert sein müssen.
Der Autor Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Heinze ist Partner bei SNP Schlawien Rechtsanwälte. Der Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht sowie für Vergaberecht berät schwerpunktmäßig mittelständische Unternehmen sowie Tochtergesellschaften und Niederlassungen deutscher und ausländischer Konzerne in allen Fragen des Handels- und Gesellschaftsrechts. https://de.linkedin.com/in/wolfgang-heinze-a935a324
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht
Fachanwalt für Vergaberecht
Während es in Deutschland Überlegungen gab, das deutsche Lieferkettengesetz auszusetzen, ist Anfang Juli schon die EU-Lieferkettenrichtlinie in Kraft getreten. Sie verlangt mehr Umweltschutz und dehnt die Lieferkette aus. Welche Pflichten neu sind und welche Risiken für Leitungspersonal in Unternehmen noch größer werden. Konnten wir Anfang März nur berichten, dass sich die Verabschiedung der EU-Richtlinie über Lieferkettensorgfaltspflichten wohl verzögern könnte,...
Alle Geschäftsführer sind dafür verantwortlich, dass die GmbH all ihre Pflichten erfüllt. Interne Zuständigkeitsregelungen innerhalb der Geschäftsführung können die Verantwortung und damit auch die Haftung auf einzelne Geschäftsführer beschränken. Die übrigen müssen das „nur noch“ überwachen. Doch der BGH stellt auch an diese Kontrolle strenge Anforderungen. In dem Fall, über den der Bundesgerichtshof (BGH) zu entscheiden hatte, ging es...