Im dynamischen Gefüge der modernen Arbeitswelt ergeben sich immer komplexere Fragestellungen zur Arbeitszeit. Von der Rufbereitschaft bis hin zu den subtilen Unterschieden zwischen Mehrarbeit und Überstunden – die Nuancen sind vielfältig und die rechtlichen Rahmenbedingungen oft nicht ganz klar. In unserem Interview mit Dr. Petra Ostermaier gehen wir auf die Feinheiten der Arbeitszeitgestaltung ein.
Beginnen wir mit den Grundlagen: Können Sie uns einen Überblick über die rechtliche Definition der Arbeitszeit geben, speziell im Kontext des europäischen Rechts, des deutschen öffentlichen und privaten Arbeitsrechts sowie des betriebsverfassungsrechtlichen Arbeitszeitbegriffs?
Rechtlich betrachtet gibt es verschiedene Arbeitszeitbegriffe, je nach Sachzusammenhang:
Europarechtlich wird als Arbeitszeit jede Zeitspanne bezeichnet, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Der Begriff der Arbeitszeit steht dabei dem der Ruhezeit gegenüber; die Begriffe schließen sich aus, und es gibt auch nichts dazwischen.
Das öffentliche (deutsche) Arbeitszeitrecht definiert die Arbeitszeit schlicht als die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen; wesentlich ist die Befriedigung eines fremden Bedürfnisses. Das öffentliche Arbeitszeitrecht ist Arbeitsschutzrecht; Ziel ist der Schutz des Arbeitnehmers vor Überforderung, wobei das öffentliche Arbeitszeitrecht den Arbeitgeber verpflichtet zu gewährleisten, dass bestimmte Grenzen bei der Arbeitszeit eingehalten werden.
Das private Arbeitszeitrecht definiert die Arbeitszeit zwar wie das öffentliche Arbeitszeitrecht. Im Fokus steht aber die Festlegung zwischen den Arbeitsvertragsparteien, wann genau die Beschäftigten wie lange arbeiten müssen und wofür sie Anspruch auf Arbeitsvergütung haben.
Letztlich gibt es auch noch einen betriebsverfassungsrechtlichen Arbeitszeitbegriff. Danach ist Arbeitszeit die Zeit, während der ein Arbeitnehmer die von ihm in einem konkreten zeitlichen Umfang nach seinem Arbeitsvertrag oder einem Tarifvertrag geschuldete Arbeitsleistung tatsächlich zu erbringen hat. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats greift also nur hinsichtlich der Festlegung des Zeitraums ein, während dessen der Arbeitgeber vom Arbeitnehmer die Erfüllung seiner vertraglichen Hauptleistungspflichten verlangen und dieser sie ihm anbieten kann.
Obwohl sich die Arbeitszeitbegriffe weitgehend überschneiden, gibt es durchaus Fälle, in denen z.B. bestimmte Zeiten nicht als Arbeitszeit nach dem Arbeitszeitgesetz zu werten sind, aber dennoch nach dem privaten Arbeitsrecht als Arbeitszeit zu vergüten sind. Umgekehrt können aufgedrängte Überstunden Arbeitszeit nach dem Arbeitszeitgesetz sein, vom Arbeitgeber aber dennoch nicht zu vergüten sein. Insoweit ist bei einer Arbeitszeiterfassung richtigerweise zwischen einer nach dem Arbeitszeitgesetz und einer im Sinne der Erfüllung der Hauptleistungspflichten zu unterscheiden.
In der Praxis erlebt man es häufig, dass zwischen den verschiedenen Arbeitszeitbegriffen nicht unterschieden wird und bei einer „Arbeitszeit“ von über 10 Stunden an einem Tag, die auch alle vergütet werden, der Vorwurf des Verstoßes gegen das Arbeitszeitgesetz gemacht wird, obwohl dieser z.B. wegen einer längeren Reise mit einem öffentlichen Verkehrsmittel tatsächlich gar nicht vorliegt.
Im Anschluss an die Definition, wie legen das Gesetz und die Arbeitsverträge fest, wann die Arbeitszeit anfängt und endet? Können Sie auch erläutern, wie Vorarbeiten, Nacharbeiten und bestimmte Pausen in diesen Zeitrahmen einfließen?
Mit der Definition, dass Arbeitszeit „die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen ist“, weiß man ernstlich nicht viel mehr als zuvor.
Grundsätzlich beginnt die Arbeit erst mit der Aufnahme der geschuldeten Arbeit bzw. wenn der Arbeitnehmer bereitsteht, die Arbeitsleistung zu erbringen, so dass der Arbeitgeber die Arbeitskraft auch verwerten kann. Die Arbeit beginnt also üblicherweise nicht schon mit dem Betreten des Betriebs, sondern grundsätzlich erst, wenn der eigentliche Arbeitsplatz, also z.B. das eigene Büro, erreicht ist und die Jacke ausgezogen ist.
Etwas anderes gilt dann, wenn Zeiterfassungsgeräte installiert sind; dann ist auch der folgende Weg zum Arbeitsplatz bereits als Arbeitszeit zu verstehen, jedenfalls vergütungsrechtlich. In großen Betrieben gibt es daher mehrere Zeiterfassungsgeräte und Zuordnungen, wer an welchem Zeiterfassungsgerät stempeln muss. Vorarbeiten gehören natürlich auch schon zur Arbeitszeit, wie z.B. das Hochfahren des Computers, selbstverständlich auch, wenn erst einmal alle Updates geladen werden. In der Zeit darf der Arbeitnehmer strenggenommen weder „Däumchen drehen“ oder privaten Tätigkeiten nachgehen, wenn er auch anderes machen kann, etwa den Arbeitsplatz herrichten, Akten zurechtlegen etc. Nur wenn es nichts anderes zu tun gibt, darf der Arbeitnehmer auch untätig bleiben.
Die Arbeit endet umgekehrt daher, wenn der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz verlässt, seine Arbeit einstellt bzw. seine Arbeitsleistung nicht mehr anbietet. Das Herunterfahren des Computers, das Aufräumen des Arbeitsplatzes und sonstige Nacharbeiten gehören also noch zur Arbeitszeit, nicht aber das Frischmachen vor dem Gehen, das Anziehen des Mantels usw. Gibt es Zeiterfassungsgeräte im Betrieb, endet die Arbeitszeit erst mit Ausstempeln an dem zugeordneten Gerät.
Das gilt selbstverständlich auch alles im Homeoffice.
Da wir über die Arbeitszeit im Allgemeinen gesprochen haben, könnten wir nun in die Details gehen: Was sind die Hauptunterschiede zwischen Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst in Bezug auf die Arbeitszeit? Wie wird das rechtlich behandelt?
Bereitschaftsdienste sind Zeiten, in denen sich der Arbeitnehmer an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle innerhalb oder außerhalb des Betriebs aufhalten muss, um ggf. seine Arbeitsleistung zu erbringen. Diese Zeiten gelten als Arbeitszeit.
Bei Rufbereitschaft hält sich der Arbeitnehmer zu Hause oder an einem Ort eigener Wahl auf, ist für den Arbeitgeber dort erreichbar und muss auf Abruf die Arbeit aufnehmen. Muss der Arbeitnehmer binnen 20 Minuten am Einsatzort sein, wird dies inzwischen aber schon als Bereitschaftsdienst gewertet, bei einer Pflicht, innerhalb von 45 Minuten am Einsatzort zu sein, kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. Bei Rufbereitschaft gelten bislang nur die eigentlichen Einsatzzeiten als Arbeitszeit; europarechtlich ist dies aber fraglich.
Eine spezielle Kategorie der Arbeitszeit sind Reisen: Können Sie uns die Betrachtungsweise von Wegezeiten, Reisezeiten und Dienstreisezeiten im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes erläutern? Wie werden diese Zeiten bewertet?
Wegezeiten von zu Hause zum Betrieb und wieder zurück sind nie Arbeitszeit. Stellt eine Fahrt die Hauptleistungspflicht aus dem Arbeitsvertrag dar, wie z.B. bei Piloten, Kabinenpersonal, Zugführern, Zugpersonal, Busfahrern und LKW-Fahrern, aber auch bei Außendienstlern, ist die „Reisezeit“ natürlich Arbeitszeit.
Davon abzugrenzen sind Dienstreisezeiten. Als Dienstreisen sind alle Reisen des Arbeitnehmers anzusehen, die dem Zweck dienen, außerhalb der Betriebsstätte des Arbeitgebers ein Dienstgeschäft zu erledigen, ohne dass die „Reise“ Hauptleistungspflicht ist.
Arbeitszeitrechtlich wurde bislang nach der Belastung entschieden, ob Arbeitszeit vorlag oder nicht: Lenkte der Arbeitnehmer auf Weisung des Arbeitgebers selbst ein Auto oder war er gehalten, auf einer Bahnreise zu arbeiten, lag arbeitszeitrechtlich und meist auch vergütungsrechtlich Arbeitszeit vor, und zwar auch unter Einschluss von Verspätungen. War ein Arbeitnehmer nur Beifahrer oder entschied sich ein Arbeitnehmer entgegen dem Angebot des Arbeitgebers, ein öffentliches Verkehrsmittel zu nutzen, die Strecke mit dem Auto selbst zu fahren, oder stand es ihm frei, in der Bahn zu arbeiten oder auch nicht, handelte es sich nicht um Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes. Soweit diese Zeiten in den Zeitrahmen der „normalen“ Arbeitszeit fielen, handelte es sich aber um vergütungspflichtige Arbeitszeit. Zeiten außerhalb der „normalen“ Arbeitszeit wurden aber nicht unbedingt oder nur bis zu einer Arbeitszeit von insgesamt acht oder zehn Stunden am Tag vergütet. Für Reisezeiten kann aber eine geringere Vergütung vereinbart oder eine solche ganz ausgeschlossen werden, soweit dennoch der Mindestlohn im Monatsdurchschnitt erreicht wird.
Reine Wartezeiten, die vom Arbeitnehmer eigennützig verwendet werden können, sollen dagegen nicht zur entgeltpflichtigen Arbeitszeit gehören.
Tatsächlich stellen neuere Entscheidungen des EuGH, der bei Bereitschaftsdienst auf die konkrete Einschränkung der persönlichen Freiheit abstellt, diese Sichtweise in Frage. Das Verwaltungsgericht Lüneburg (Urteil vom 02.05.2023 – VG 3 A 146/22) hat auf dieser Grundlage für die „besondere Fallkonstellation“ eines Berufskraftfahrers, dessen Aufgaben Fahrzeugüberführungen sind, entschieden, dass die Bahnfahrt zum zu überführenden Fahrzeug Arbeitszeiten i. S. d. Arbeitszeitgesetzes sei. Begründet hat es das im Wesentlichen damit, dass die Bahnfahrt notwendiges Mittel für die eigentliche Leistungserbringung sei, der Fahrer über keinen festen Arbeitsplatz verfüge und seine Arbeitsleistung nicht in einer Betriebsstätte erbringe, sich während der Fahrt für Umdisponierungen zur Verfügung halten und telefonisch erreichbar sein müsse und bestimmte Gegenstände für die nachfolgende Überführung bei sich führen müsse.
Folge wäre, dass Bahnfahrten über 10 Stunden (hierzu zählen natürlich auch die Überschreitungen durch Verspätungen) danach grundsätzlich unzulässig wären. Auch wenn diese Entscheidung eine „besondere Fallkonstellation“ betrifft, so ist der Weg nicht mehr weit, auch die Freizeit während einer Dienstreise (ggf. noch mit Ausnahme der Schlafenszeiten) als Arbeitszeit anzusehen, da die Dienstreisenden durch die Ortsabwesenheit auch in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt sind. Das Arbeitszeitgesetz in der jetzigen Fassung würde unter Zugrundelegung des weiten europarechtlichen Arbeitszeitbegriffs übliche Arbeitsabläufe in zeitlicher Hinsicht verkomplizieren bzw. unwirtschaftlich machen.
Ein weiteres interessantes Thema sind besondere Arbeitszeiten, wie Umkleidezeiten: Unter welchen Umständen werden diese als Arbeitszeit angesehen, die vergütungspflichtig ist? Gibt es hierzu bestimmte Vorschriften oder Präzedenzfälle?
Umkleidezeiten sind dann vergütungspflichtige Arbeitszeit, wenn sie einem fremden Bedürfnis dienen und nicht zugleich ein eigenes Bedürfnis erfüllen.
Schreibt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer vor, eine bestimmte Dienstkleidung zu tragen und sie im Betrieb an- und abzulegen oder darf sie – z.B. aus hygienischen Gründen – erst im Betrieb angelegt werden, so handelt es sich sowohl bei der Zeit für das An- und Umkleiden als auch für den Weg zwischen Umkleideraum und Arbeitsplatz um vergütungspflichtige Arbeitszeit und auch um Arbeitszeit im arbeitszeitrechtlichen Sinne.
Ist die Dienstkleidung besonders auffällig, weil der Arbeitnehmer aufgrund ihrer Gestaltung in der Öffentlichkeit einem bestimmten Arbeitgeber oder einem bestimmten Berufszweig beziehungsweise einer bestimmten Branche zugeordnet werden kann, oder handelt es sich um Schutzausrüstung, kann der Arbeitnehmer die Dienstkleidung im Betrieb an- und ablegen, was dann auch als vergütungspflichtige Arbeitszeit gilt, wohl aber nicht als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes. Zieht er sich aber trotz besonderer Auffälligkeit der Dienstkleidung zu Hause um, handelt es sich hingegen nicht um vergütungspflichtige Arbeitszeit.
Darf der Arbeitnehmer im Übrigen die Dienstkleidung mit nach Hause nehmen, ist das An- und Ablegen der Dienstkleidung keine vergütungspflichtige Arbeitszeit, egal ob der Arbeitnehmer sie dann tatsächlich zu Hause an- und auszieht oder doch erst bzw. schon in einem Umkleideraum im Betrieb.
Zum Abschluss dieses Teils des Interviews: Wie werden Aktivitäten wie Smalltalk, private Angelegenheiten, Toilettengänge und Raucherpausen in Bezug auf die Arbeitszeit interpretiert? Gibt es Richtlinien, die diese Aktivitäten innerhalb der Arbeitszeit regeln?
Streng genommen gehören Smalltalks mit Kollegen, private Telefonate und Handynutzung, das Kaffeeholen und selbst Toilettengänge nicht zur Arbeitszeit, wobei für letzteres aber natürlich zumindest ein Freistellungsanspruch besteht. In der Praxis werden solche privaten Dinge, wo es die Arbeit zulässt, aber von den Arbeitgebern toleriert, jedenfalls wenn der Arbeitnehmer im Gegenzug insbesondere bei fixen Arbeitszeiten auch nicht beim Arbeitsende auf die Minute achtet. Raucherpausen sind hingegen inzwischen üblicherweise auszustempeln, wenn Zeiterfassungsgeräte bestehen; hier hatten Nichtraucher eine Ungleichbehandlung geltend gemacht, da sie diese zusätzlichen Pausen nicht bekommen würden.
Wenn nun aus arbeitsschutzrechtlichen Gründen die Arbeitszeit zu erfassen ist, wären natürlich sämtliche Unterbrechungen der Arbeitszeit zu erfassen, um zu vermeiden, dass am Ende des Tages ohne die Erfassungen solcher Unterbrechungen die tägliche Höchstarbeitszeit auch überschritten wird. Derzeit heißt es zwar auch noch, dass die arbeitsschutzrechtlich vorgeschriebene Arbeitszeiterfassung kein Präjudiz für die Vergütungspflicht wäre – aber das kann künftig auch anders – und dann auch mit Rückwirkung – bewertet werden. Ob man mit solch einer kleinteiligen Arbeitszeiterfassung, jedenfalls bei Tätigkeiten mit eigenem Freiraum, den Beschäftigten wirklich einen Dienst erwiesen hat, wird sich zeigen – sicherlich werden Betriebsräte eine Überwachung befürchten.
Dr. Petra Ostermaier ist schwerpunktmäßig im Arbeitsrecht tätig. Sie berät und betreut neben multinationalen Konzernen auch mittelständische und kleinere Unternehmen in allen Fragen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Hierbei vertritt sie Arbeitgeber nicht nur vor Gericht, sondern begleitet diese auch bei Verhandlungen mit Gewerkschaften, Betriebsräten und in Einigungsstellen. Daneben unterstützt Petra Ostermaier Vorstände, Geschäftsführer und leitende Angestellte bei ihren Vertragsverhandlungen mit Unternehmen. www.linkedin.com/in/dr-petra-ostermaier
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht
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