Der russische Angriff auf die Ukraine ist klar völkerrechtswidrig. Westliche Staaten könnten der Ukraine sogar militärisch beistehen. Doch der Krieg ist längst da. Welche Regeln jetzt in der Ukraine gelten, wer dort überhaupt kämpfen darf und welche Risiken die bewaffneten Zivilisten eingehen, die Kiew verteidigen wollen, erklärt Christian Lentföhr.
Die UN-Vollversammlung hat den russischen Angriff auf die Ukraine „auf das Schärfste“ verurteilt. Für eine entsprechende Resolution stimmten am 2. März 141 von 193 Mitgliedstaaten. Der Einmarsch sei „ein eklatanter Bruch des Völkerrechts“ und durch nichts zu rechtfertigen, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz. Dieser Einschätzung ist wenig hinzufügen. Aus völkerrechtlicher Sicht hat kein Staat das Recht, die ihm unbeliebte Regierung eines anderen Staates abzusetzen oder einem anderen Staat Vorschriften zu machen, wie dort mit den Bürgern umzugehen sei – nicht einmal, wenn in der ukrainischen Regierung wirklich „Nazis“ säßen, wie Russlands Präsident Wladimir Putin es behauptet hat. Der russische Angriffskrieg verstößt gegen das Gewaltverbot und das Interventionsverbot der UN-Charta, das die Einmischung eines Staates in die inneren und äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates unter Androhung oder Anwendung von Zwang verbietet.
Völkerrechtlich ist auch klar, dass die Ukraine sich gegen den Angriff wehren und westliche Staaten ihr beistehen dürfen. Bei einem bewaffneten Angriff darf ein Staat sich im Rahmen des individuellen Notwehrrechts verteidigen, andere Staaten können im Wege der kollektiven Selbstverteidigung Nothilfe leisten, soweit sie dies politisch beschließen.
Die Waffenlieferungen, die Deutschland und andere NATO-Staaten jetzt beschlossen haben, sind durch Art. 51 der UN-Charta ebenso gedeckt wie der Ausschluss russischer Banken vom internationalen Zahlungsverkehr SWIFT. Sogar ein militärischer Beistand wäre wohl möglich, ohne dass es einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates bräuchte. Doch der Krieg ist längst da. Und mit ihm die grausamen Fragen, welches Recht jetzt eigentlich noch gilt. Wen schützt das humanitäre Völkerrecht? Wer darf eigentlich kämpfen? Und was droht den Angegriffenen, die sich– wie in Kiew – verteidigen, obwohl sie keine Soldaten sind?
Weil in der Staatenpraxis ein Krieg heute nicht mehr förmlich erklärt wird, bezeichnet das Völkerrecht ihn als bewaffneten Konflikt. Verstöße gegen das Gewaltverbot wie auch das Interventionsverbot sind an der Tagesordnung. Um die Schädigungshandlungen auf das Nötigste zu begrenzen, gibt es das humanitäre Völkerrecht (ius in bello).
Dessen Wächter ist neben den nationalen Rotkreuzgesellschaften das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf. Seine Durchsetzung beruht – leider – allein auf der gegenseitigen Erwartung, dass die Gegenseite das Recht nicht breche, solange man selber es einhalte.
Sowohl die Russische Föderation (1989) und Belarus (1989) als auch die Ukraine (1990) haben die vier Genfer Abkommen (GA) von 1949 und sein Zusatzprotokoll I ratifiziert, also für sich ausdrücklich als rechtsverbindlich erklärt. Mit der ersten Anwendung von Waffengewalt zwischen den Konfliktparteien, also schon geringsten bewaffneten Schädigungshandlungen gegenüber dem völkerrechtlich geschützten Bereich des Konfliktgegners gilt das Rot-Kreuz-Recht für sie. Es endet erst, wenn alle Waffen schweigen und auf dem Territorium der Ukraine nichts vom mehr Angriff übrig ist; kein Territorium mehr besetzt, keine Kriegsgefangenen festgehalten, keine Zivilpersonen interniert.
Eines der wichtigsten Verbote des humanitären Völkerrechts ist wohl gleichzeitig dasjenige, das schon im Zweiten Weltkrieg, aber auch seither am häufigsten missachtet wurde. Dabei besteht Einigkeit darüber, dass es einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts darstellt: das Verbot der Waffenanwendung gegen die Zivilbevölkerung.
Nach ukrainischen Angaben, die sich unabhängig nicht überprüfen lassen, wurden jedoch bereits binnen einer Woche landesweit mehr als 2.000 Zivilisten getötet, Tausende verletzt und hunderte zivile Gebäude beschädigt oder zerstört.
Es ist nicht realistisch, dass ein Krieg keine zivilen Opfer fordert. Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen dürfen jedoch das Ziel von militärischen Angriffen sein, Artikel 51.2 ZP I. Wenn bei der Bombardierung militärischer Ziele auch zivile Opfer zu befürchten sind, ist es Aufgabe der leitenden Soldaten, zu entscheiden, ob die zu befürchtenden Opferzahlen so groß sind, dass sie außer Verhältnis stehen zu dem militärisch mit dem Schlag Erreichbaren. Das IV. Genfer Abkommen bietet für den Kriegsfall einen umfassenden rechtlichen Schutz der Zivilbevölkerung und der einzelnen Personen vor Willkür und Machtmissbrauch. Es geht darum, den grundlegenden Menschenrechten auch im bewaffneten Konflikt zum Durchbruch zu verhelfen.
Wer darf überhaupt kämpfen?
Ein zentrales Anliegen des humanitären Völkerrechtes ist es außerdem, klar und deutlich zu umschreiben, wer in einem bewaffneten Konflikt Gewalt ausüben darf, um dem Krieg Schranken zu setzen. Zivilisten dürfen nicht kämpfen, dafür genießen sie absoluten Schutz. Zivilisten sind Kinder, Frauen und überhaupt alle, die nicht berechtigt sind, zu kämpfen. Wer tötet, ohne dazu berechtigt zu sein, wird strafrechtlich als Krimineller verfolgt. Deshalb ist wichtig, wer kämpfen darf, er wird als Kombattant bezeichnet.
Wer hat nun dieses Recht? Dies ist im Einzelnen umstritten:
Natürlich dürfen die Angehörigen der regulären Streitkräfte an den Feindseligkeiten teilnehmen. Sie dürfen Gewalt ausüben in einer Weise, die in normalen Zeiten strafbar ist. Soldaten dürfen Soldaten des Feindes töten oder gefangen nehmen.
Auch Angehörige von Milizverbänden, von Freiwilligenkorps und insbesondere organisierten, bewaffneten Widerstandsgruppen können Rechte und Pflichten von Kombattanten geltend machen, wenn sie bestimmte Voraussetzungen des III. GA Art. 4.A.2. erfüllen: Eine Konfliktpartei muss für ihr Handeln verantwortlich sein, die Milizen müssen unter einem verantwortlichen Kommando stehen, jederzeit als Kämpfer erkennbar sein, die Waffen offen tragen und das humanitäre Völkerrecht befolgen. Da dies im Guerillakampf nicht zu jeder Minute durchzuhalten ist, erlaubt es die umstrittene Vorschrift des Art. 44.3 ZP I einem regulären Kombattanten deshalb, in der zivilen Gesellschaft unterzutauchen, ohne den Schutz des Kombattanten-Status zu verlieren, vorausgesetzt, dass er während jedes militärischen Einsatzes und während eines militärischen Aufmarsches vor Beginn eines Angriffs, an dem er teilnehmen soll, seine Waffen so lange offen trägt, wie er für den Gegner sichtbar ist. So soll er zum Schutz der Zivilbevölkerung, aber auch zur Selbstverteidigung des Gegners unterscheidbar bleiben.
Was aber, wenn Menschen Gewalt ausüben, die keine Soldaten sind? Nach Medienberichten soll Russlands Machthaber Wladimir Putin eine private Söldnertruppe – die sogenannte “Gruppe Wagner” — damit beauftragt haben, hochrangige ukrainische Politiker zu töten.
Söldner haben keinen Anspruch auf den Status als Kombattant und dürfen damit auch nicht kämpfen. Sie haben auch keinen Anspruch auf eine Behandlung als Kriegsgefangene und können nach nationalem Recht, also regulärem, ganz normalem Strafrecht für ihre Taten verurteilt werden. Ein Söldner ist, wer gegen hohe Belohnung kriegerische Aufträge wahrnimmt, ohne den regulären Streitkräften anzugehören.
“Kiew wird sich selbst verteidigen”, sagte der ukrainische Innenminister, er sei stolz, wenn er sehe, wie die Menschen ihre Städte, Dörfer, Straßen und Häuser verteidigten. Aber schützen die Genfer Rotkreuz-Abkommen bewaffnete Zivilisten?
Wenn es sich dabei um Bewohner eines Territoriums handelt, die bei einer feindlichen Invasion spontan Widerstand gegen die anrückenden feindlichen Truppen üben (sog. levée en masse), haben die Zivilisten Anspruch auf Kriegsgefangenenschutz, wenn sie die Waffen offen tragen und das humanitäre Völkerrecht beachten. Sie dürfen kämpfen und bekämpft werden.
Dieses Recht endet jedoch, wenn die Besetzung vollzogen ist; Bewohner eines besetzten Gebietes dürfen keinen Widerstand gegen die Besatzungsbehörden mehr leisten. Dieses Verbot ist das Gegenstück zu der Zivilpersonen gewährten faktischen Immunität. Wenn Zivilpersonen nicht bekämpft werden dürfen, dann müssen auch sie sich der Feindseligkeiten enthalten.
Doch die Zivilisten in Kiew kämpfen nicht nur spontan und aus eigenem Antrieb mit dem Messer aus der hauseigenen Küchenschublade gegen die russischen Aggressoren. Die ukrainischen Behörden haben nach eigenen Angaben zahlreiche Waffen an die Einwohner verteilt. Insgesamt seien 25.000 automatische Waffen sowie 10 Millionen Patronen ausgegeben worden, meldete Tagesschau.de. Auch Panzerabwehrwaffen seien ausgehändigt worden. Damit fehlt es wohlmöglich an der Spontanität, um zu rechtfertigen, dass Zivilisten kämpfen.
Deshalb versucht die Ukraine offenbar, auch die Zivilisten mit Hoheitskennzeichen auszustatten und in Milizen einzugliedern, um den völkerrechtlichen Schutz als Kombattant zu bewahren.
Grundsätzlich aber begeben sich einzelne Zivilisten, die zur Waffe greifen, in große Gefahr: Der Gegner darf Gewalt gegen sie ausüben. Sie verlieren, solange sie kämpfen, den Schutzanspruch (Art. 51.3 ZP I). Dadurch werden sie aber nicht zu Kombattanten, denn in der Regel fehlt es ihnen an einem verantwortlichen Kommando. Sie bleiben Zivilisten und unterstehen im Falle der Gefangennahme dem IV. GA zum Schutz der Zivilbevölkerung.
Doch das IV. GA kennt eine besonders strenge Bestimmung für solche Situationen. Dessen Art. 5.1 erlaubt, die Rechte solcher Personen einzuschränken. Insbesondere dürfen sie ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft genommen werden. Sie dürfen auch nach nationalem Recht für ihre bewaffneten Taten bestraft werden. Allerdings haben sie nach dem humanitären Völkerrecht Anspruch auf ein gerechtes und faires Gerichtsverfahren. Und der Gegner in Uniform darf sich nicht für ihre Taten rächen: Ein Angriff auf die Zivilbevölkerung als Vergeltungsmaßnahme ist in jedem Fall verboten.
Wer nicht mehr kämpft, darf auf nicht mehr bekämpft werden. Der Schutz der Verwundeten, Kranken und der Schiffbrüchigen, der Angehörigen der Streitkräfte sowie der Kriegsgefangenen ist in den I., II. und III. Genfer Abkommen geregelt. Dieser Schutz ist ausgerichtet an dem Grundsatz, dass gegen den wehrlosen oder die Waffen streckenden Gegner keine bewaffneten Schädigungshandlungen mehr vorgenommen werden dürfen, so ausdrücklich auch Artikel 51 Zusatzprotokoll I. Verwundete, Kranke und Schiffbrüchige sind unverzüglich zu bergen, vor Misshandlung zu schützen und zu versorgen.
Die Angehörigen des Sanitätsdienstes und seiner festen und mobilen Einrichtungen dürfen unter keinen Umständen angegriffen werden und sind jederzeit zu schonen und zu schützen. Bei Gefangennahmen kann das Sanitätspersonal seine Tätigkeit fortsetzen, bis diese von entsprechenden Einheiten der Gewahrsamsmacht übernommen wird.
Ein Kriegsgefangener wird durch das III. GA und Art. 44.1 ZP I geschützt. Kriegsgefangene sind jederzeit mit Menschlichkeit zu behandeln und nach Beendigung der aktiven Feindseligkeiten freizulassen und ohne Verzug heimzuschaffen. Der Gewahrsamstaat ist für ihre Behandlung verantwortlich. Das Recht auf diesen Schutz geht auch dann nicht verloren, wenn er Kriegsverbrechen begangen haben soll. Der Gewahrsamsstaat ist berechtigt und verpflichtet, die Vorwürfe zu untersuchen und ein rechtstaatliches Strafverfahren einzuleiten.
Christian Lentföhr ist Partner bei SNP Schlawien Partnerschaft mbB. Seit über 30 Jahren beschäftigt er sich in einer internationalen Hilfsorganisation als Konventionsbeauftragter mit den Genfer Abkommen und dem humanitären Völkerrecht. Bei SNP berät er Unternehmer und Führungskräfte als Fachanwalt für Arbeitsrecht, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Zertifizierter Berater Steuerrecht für mittelständische Unternehmen (DASV e.V.) https://de.linkedin.com/in/christian-lentf%C3%B6hr-42743458
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Zertifizierter Berater Steuerrecht für mittelständische Unternehmen (DASV e.V.)
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