Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: Wann Arbeitgeber Zweifel haben dürfen

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Arbeitsrecht | 27. Februar 2025
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Die Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung hat in der Recht­sprechung einen hohen Stel­len­wert als Beweis­mit­tel. Als das wichtig­ste geset­zlich vorgeschriebene Doku­ment reicht sie in der Regel aus, um im Arbeits­gerichtsver­fahren die Arbeit­sun­fähigkeit eines Arbeit­nehmers nachzuweisen. Doch gle­ich mehrere neue höch­strichter­liche Urteile stellen klar: Es gibt sehr wohl Fälle, in denen Arbeit­ge­ber diesen Beweiswert erschüt­tern kön­nen.

 

Mit ein­er Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung kön­nen Arbeit­nehmer regelmäßig nach­weisen, dass es ihnen wegen Krankheit nicht möglich ist, ihrer arbeitsver­traglichen Verpflich­tung nachzukom­men.

In der Recht­sprechung kommt der Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung ein hoher Beweiswert zu. Sie ist das geset­zlich aus­drück­lich vorge­se­hene und insoweit wichtig­ste Beweis­mit­tel dafür, dass ein Arbeit­nehmer krankheits­be­d­ingt arbeit­sun­fähig ist. Legt ein Arbeit­nehmer im Ver­fahren eine Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung vor, hat der Richter also nach Ansicht des Bun­de­sar­beits­gerichts regelmäßig davon auszuge­hen, dass der Arbeit­nehmer dadurch bewiesen hat, dass er arbeit­sun­fähig erkrankt war.

Hegt der Arbeit­ge­ber Zweifel an der Richtigkeit ein­er Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung, muss  er deshalb konkrete Einzelum­stände dafür dar­legen, weshalb er die Richtigkeit der Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung infrage stellt. Diese ein­fach zu bestre­it­en, reicht nicht aus, um ihre Richtigkeit zu wider­legen.

In den ver­gan­genen Jahren hat sich aber eine Rei­he von Gericht­sentschei­dun­gen ange­sam­melt, die in bes­timmten Fällen von ein­er Erschüt­terung des Beweiswerts ein­er Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung aus­ge­ht. Gelingt es dem Arbeit­ge­ber, den Beweiswert der Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung zu erschüt­tern, muss der Arbeit­nehmer dar­legen und beweisen, dass er im attestierten Zeitraum tat­säch­lich arbeit­sun­fähig erkrankt war. Das spielt nicht nur eine Rolle, wenn es darum geht, ob ein Arbeit­nehmer für den Zeitraum, für den er eine Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung vorgelegt hat, eine Ent­gelt­fortzahlung erhält. Das Vortäuschen ein­er Arbeit­sun­fähigkeit recht­fer­tigt auch regelmäßig eine ordentliche oder sog­ar außeror­dentliche Kündi­gung. Wer als Arbeit­ge­ber berechtigte Zweifel daran hat, dass ein Mitar­beit­er wirk­lich arbeit­sun­fähig krank ist, sollte das nicht leicht­fer­tig hin­nehmen.

 

„Krank“ nach der Kündi­gung: Die zeitliche Koinzi­denz

Mit der eige­nen Kündi­gung gle­ichzeit­ig eine Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung bis zum Ende der Kündi­gungs­frist ein­re­ichen, ist spätestens seit der Entschei­dung des Bun­de­sar­beits­gerichts vom 8. Sep­tem­ber 2021 (BAG, Urt. v. 08.09.2021, 5 AZR 149/21) keine gute Idee mehr.

Hier hat­te es das Bun­de­sar­beits­gericht mit ein­er Arbeit­nehmerin zu tun, die gle­ichzeit­ig mit der Ein­re­ichung ihrer Eigenkündi­gung eine Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung bei ihrem Arbeit­ge­ber ein­re­ichte, welche genau die Rest­laufzeit des Arbeitsver­hält­niss­es nach der Eigenkündi­gung abdeck­te. Der Arbeit­ge­ber hat­te daraufhin keine Ent­gelt­fortzahlung mehr geleis­tet, da er der Ansicht war, dass durch die pass­ge­naue Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung deren Beweiswert erschüt­tert sei.

Die Arbeit­nehmerin klagte dage­gen und scheit­erte vor dem Bun­de­sar­beits­gericht. Deutsch­lands höch­ste Arbeit­srichter stell­ten klar, dass die zeitliche Koinzi­denz zwis­chen Kündi­gung und Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung einen ern­sthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeit­sun­fähigkeit begrün­det, welchen die Arbeit­nehmerin in diesem Fall auch nicht wider­legen kon­nte.

 

Der enge zeitliche Zusam­men­hang

In einem weit­eren Urteil aus dem Jahr 2023 (v. 13.12.2023, 5 AZR 137/23) konkretisierte das BAG seine Recht­sprechung und baute diese weit­er aus:

  • Der Beweiswert ein­er Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung kann auch erschüt­tert sein, wenn nicht der Arbeit­nehmer gekündigt, son­dern vom Arbeit­ge­ber eine Kündi­gung erhal­ten hat.
  • Es ist auch nicht entschei­dend, ob für die Dauer der Kündi­gungs­frist eine oder mehrere Bescheini­gun­gen vorgelegt wer­den. Die ern­sthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeit­sun­fähigkeit grün­den darin, dass der Arbeit­nehmer zu einem Zeit­punkt, zu dem fest­ste­ht, dass das Arbeitsver­hält­nis enden soll, arbeit­sun­fähig wird und das bis zum Ablauf der Kündi­gungs­frist auch bleibt.

Diese Recht­sprechung hat das Bun­de­sar­beits­gericht mit­tler­weile in zwei weit­eren aktuellen Urteilen (BAG, Urteil v. 21.08.2024, 5 AZR 248/23 und BAG, Urteil v. 18.9.2024, 5 AZR 29/24) bestätigt:

  • Es ist für die zeitliche Koinzi­denz, die den Beweiswert der Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung erschüt­tern kann, nicht erforder­lich, dass der Arbeit­nehmer die Kündi­gung und die Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung „zeit­gle­ich“ übergibt. Es kommt auf den engen zeitlichen Zusam­men­hang zwis­chen der Über­gabe der Kündi­gung und der Vor­lage der Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung an. Dieser liegt nach dem BAG jeden­falls dann vor, wenn zwis­chen Über­gabe der Eigenkündi­gung und Ein­re­ichung der Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung nur ein arbeits­freies Woch­enende liegt.
  • Schließlich muss die Eigenkündi­gung dem Arbeit­ge­ber nicht bere­its zum Zeit­punkt der Krankschrei­bung zuge­gan­gen sein. Gle­ich­es gilt im umgekehrten Fall: Auch eine Kündi­gung durch den Arbeit­ge­ber muss dem Arbeit­nehmer noch nicht zuge­gan­gen sein. Bei der Beurteilung ein­er zeitlichen Koinzi­denz kommt es darauf an, dass der Arbeit­nehmer zu einem Zeit­punkt, zu dem bere­its fest­ste­ht, dass das Arbeitsver­hält­nis been­det wer­den soll, arbeit­sun­fähig wird und sich diese Arbeit­sun­fähigkeit bis zum Ablauf der Kündi­gungs­frist durchzieht.

 

„Krank“ nach dem Urlaub: Auf die Gesamtschau kommt es an  

Erschüt­tert wer­den kann der Beweiswert ein­er Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung aber nicht nur im zeitlichen Zusam­men­hang mit ein­er Kündi­gung der einen oder anderen Partei.

Im Jan­u­ar 2025 hat­te das BAG über einen Fall zu entschei­den, in dem sich ein Arbeit­nehmer im Som­merurlaub befand, als er sich krank meldete — siehe unseren Blog-Beitrag vom 6.2.2025. Der Mann war in Tune­sien gewe­sen und hat­te kurz vor Ende seines Urlaubs seinen Arbeit­ge­ber per E‑Mail darüber informiert, dass er vor Ort eine Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung aus­gestellt bekom­men habe und seine Rück­reise sich somit verzögere. Zurück in Deutsch­land legte er eine weit­ere Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung vor. Der Arbeit­ge­ber ver­weigerte die Lohn­fortzahlung im Krankheits­fall, weil er Zweifel an der Richtigkeit der Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung hat­te.

Zu Recht, entsch­ied das Bun­de­sar­beits­gericht im Jan­u­ar (Urt. v. 15.01.2025- 5 AZR 284/24): Zwar haben aus­ländis­che Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gun­gen grund­sät­zlich den gle­ichen Beweiswert wie deutsche. Das soll laut dem Bun­de­sar­beits­gericht jeden­falls dann gel­ten, wenn der Arzt zwis­chen ein­er bloßen Erkrankung und ein­er mit Arbeit­sun­fähigkeit ver­bun­de­nen Krankheit unter­schieden hat.

Allerd­ings kann, so die Erfurter Richter, der Beweiswert der Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung in der Gesamtschau aller Umstände den­noch erschüt­tert sein. So war es hier. Der Arbeit­nehmer war laut Attest für 24 Tage krankgeschrieben und nicht reise­fähig gewe­sen, er sollte sich laut der ärztlichen Anweisun­gen nicht bewe­gen. Den­noch hat­te er einen Tag nach Ausstel­lung des Attests ein Fährtick­et für seine Rück­reise nach Deutsch­land gebucht und die lange Rück­reise dann auch noch während sein­er attestierten Arbeit­sun­fähigkeit ange­treten.

 

» Prax­is­tipp: Alle Auf­fäl­ligkeit­en ein­beziehen

Hinzu kam, dass der Arbeit­nehmer in der Ver­gan­gen­heit bere­its häu­figer direkt im Anschluss an  Urlaube Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gun­gen ein­gere­icht hat­te. Damit war laut Bun­de­sar­beits­gericht der Beweiswert der Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung erschüt­tert: Es kam zu ein­er Beweis­las­tumkehr im Ver­fahren, d.h. nun musste der Arbeit­nehmer dar­legen und beweisen, dass er im besagten Zeitraum auf­grund sein­er Krankheit arbeit­sun­fähig war.

Unab­hängig davon, ob der Arbeit­nehmer eine deutsche oder aus­ländis­che Arbeit­sun­fähigkeit vor­legt, soll­ten Arbeit­ge­ber diese also genau prüfen und dabei alle Umstände des Falls im Zusam­men­spiel berück­sichti­gen. Gelingt es, den Beweiswert ein­er Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung zu erschüt­tern, muss der Arbeit­nehmer dar­legen und beweisen, dass er im attestierten Zeitraum tat­säch­lich arbeit­sun­fähig erkrankt war.

 

» Prax­is­tipp: Lieber keine Detek­tei ein­schal­ten

Auch bei Zweifeln an der Arbeit­sun­fähigkeit eines Angestell­ten ist es allerd­ings eher nicht zu empfehlen, Detek­tive einzuset­zen. Ver­gan­genen Som­mer hat­te das Bun­de­sar­beits­gericht über einen Fall zu entschei­den, in dem ein Arbeit­ge­ber einen Mitar­beit­er durch eine Detek­tei wegen ein­er mut­maßlich vor­getäuscht­en Arbeit­sun­fähigkeit überwachen ließ (BAG, Urteil v. 25.07.2024, 8 AZR 225/23).

Das Bun­de­sar­beits­gericht sprach dem Angestell­ten einen Schadenser­satzanspruch auf­grund rechtswidriger und heim­lich­er Überwachung zu. Der Schadenser­satzanspruch ergab sich aus Art. 82 Abs. 1 Daten­schutz-Grund­verord­nung (DSGVO), da die Detek­tei den sicht­baren Gesund­heit­szu­s­tand des Mitar­beit­ers doku­men­tiert hat­te — eine Ver­ar­beitung von Gesund­heits­dat­en im Sinne der DSGVO. Da die Erfurter Richter den Beweiswert der stre­it­i­gen Arbeit­sun­fähigkeits­bescheini­gung nicht für erschüt­tert ansa­hen, war die Ver­ar­beitung der Gesund­heits­dat­en nicht gerecht­fer­tigt gewe­sen.

Der Ein­satz von Detek­tiv­en zur Fest­stel­lung ein­er vor­getäuscht­en Arbeit­sun­fähigkeit eines Mitar­beit­ers ist nur unter stren­gen Voraus­set­zun­gen zuläs­sig, Arbeit­ge­ber soll­ten nicht vorschnell zu diesem Mit­tel greifen. Vor­rangig soll­ten sie, wenn sie den Ver­dacht haben, über eine Krankheit getäuscht zu wer­den, eine Stel­lung­nahme des Medi­zinis­chen Dien­stes der Krankenkassen ein­holen und alle anderen Klärungsmöglichkeit­en auss­chöpfen, bevor sie eine Detek­tei beauf­tra­gen.

 

 

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