An Deutschlands oberstem Arbeitsgericht bahnt sich eine wichtige Rechtsprechungsänderung an: Das BAG signalisiert, dass Fehler im Anzeigeverfahren von Massenentlassungen bald nicht mehr zur Unwirksamkeit von Kündigungen führen könnten. Für Unternehmen wäre das ein großes Risiko weniger. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.
Der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) beabsichtigt, seine bisherige Rechtsprechung zu den Folgen fehlerhafter Massenentlassungsanzeigen aufzugeben. Sollte es dazu kommen, wäre eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung, der keine oder eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige an die Bundesagentur für Arbeit vorausging, künftig nicht mehr unwirksam.
Sicher ist das noch nicht, denn der Senat kann das nicht allein entscheiden. Weil er damit von der Rechtsprechung des 2. Senats des BAG abweichen würde, hat der 6. Senat per sog. Divergenzanfrage dort angefragt, ob der 2. Senat an seiner Rechtsauffassung festhalten will. Der 2. Senat ist nämlich seit 2012 (Urt. v. 22.11.2012 ‑2 AZR 371/11) der Ansicht, dass ein fehlerhaftes Massenentlassungsverfahren bei Erklärung einer Kündigung zu deren Unwirksamkeit führt.
Sofern der 2. Senat seine Rechtsprechung nicht aufgeben möchte, kommt der Große Senat zum Zuge. Er entscheidet, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats abweichen will. Dem Großen Senat gehören aus jedem Senat ein Berufsrichter, unter ihnen die Präsidentin des BAG, sowie je drei ehrenamtliche Richter aus Kreisen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber an.
Massenentlassung ohne Anzeige an die BA
In dem Revisionsverfahren, in dem es nun zur Divergenzanfrage kommt, hat der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts darüber zu entscheiden, ob eine betriebsbedingte Kündigung nichtig ist, weil das beklagte Unternehmen die erforderliche Massenentlassungsanzeige gegenüber der Bundesagentur für Arbeit nicht erstattet hat, wie es nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG nötig gewesen wäre.
Der klagende Arbeitnehmer war seit 1994 bei dem Unternehmen tätig, über dessen Vermögen im Dezember 2020 das Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Das Unternehmen kündigte sein Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 2. Dezember 2020 zum 31. März 2021. Binnen 30 Tagen entließ das Unternehmen, das damals mehr als 20 und weniger als 60 Mitarbeiter hatte, zudem mehr als fünf weitere Mitarbeiter, so dass eine sog. Massenentlassung vorlag. Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG hätte der Arbeitgeber also vor Ausspruch der Kündigung die Agentur für Arbeit informieren müssen (sog. Massenentlassungsanzeige). Der Arbeitnehmer erhob deshalb Kündigungsschutzklage und machte geltend, dass die ausgesprochene Kündigung nichtig sei.
Seitdem prüfen die Gerichte die Wirksamkeit seiner Kündigung, und das gestaltet sich nicht einfach. Obwohl schon in der höchsten deutschen arbeitsgerichtlichen Instanz angekommen, mussten die Prozessparteien schon zuvor warten, weil der 6. Senat des BAG in einem anderen Verfahren, das dieselbe Rechtsfrage betraf, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) angerufen hatte. Der EuGH entschied dann, dass die der deutschen Vorschrift zugrundeliegende europäische Anzeigepflicht in der europäischen Massenentlassungs-Richtlinie 98/59/EG (MERL) nicht den einzelnen Arbeitnehmer als Individuum schütze, sondern eher eine funktionierende Vorbereitung bei den zuständigen Behörden sicherstellen solle.
Massenentlassungsverfahren könnten rechtssicherer werden
Der 6. Senat änderte daraufhin seine Rechtsauffassung, sodass für ihn Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren nicht zur Nichtigkeit einer Kündigung nach § 134 BGB führen. Ohne individualschützenden Charakter der Anzeigepflicht könne ein Verstoß gegen diese nach deutschem Recht kein Verbotsgesetz im Sinne von § 134 Bürgerliches Gesetzbuch sein, also keinen Einfluss auf die Wirksamkeit der späteren Kündigung des einzelnen Arbeitnehmers haben.
Vorsorglich weist der 6. Senat in seinem Vorlagebeschluss vom 14. Dezember 2023 darauf hin, dass er seine Bedenken gegen das aktuelle Sanktionssystem nur für Fehler des Arbeitgebers im Anzeigeverfahren und nicht im Konsultationsverfahren äußert. Das Konsultationsverfahren eröffnet dem Betriebsrat die Möglichkeit, dem Arbeitgeber konstruktive Vorschläge zu unterbreiten, um Massenentlassungen zu verhindern oder zu beschränken. Im Unterschied zum Anzeigeverfahren ist also beim Konsultationsverfahren ein Einfluss des Betriebsrats auf die Willensbildung des Arbeitgebers intendiert. Macht der Arbeitgeber also im Rahmen von Massenentlassungen Fehler bei der Beteiligung des Betriebsrats, bleibt es nach Ansicht aller Senate dabei, dass die Kündigungen nichtig sind.
Das Verfahren wurde, wie auch zwei weitere Verfahren des 6. Senats, Az. 6 AZR 155/21 (B) und 6 AZR 121/22 (B), die diese Rechtsfrage betreffen, nun ausgesetzt, bis der 2. Senat und dann möglicherweise der Große Senat entscheiden. Sollten sie die Rechtsprechungsänderung tatsächlich vollziehen, würde das Risiko unwirksamer Kündigungen im Rahmen von Massenentlassungsverfahren für Arbeitgeber erheblich reduziert werden.
Eleni Mpoura ist bei SNP Schlawien als Rechtsanwältin im Bereich Arbeitsrecht tätig. Sie berät und vertritt arbeitsrechtliche Mandate sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Arbeitnehmerseite zu allen Fragen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Hierbei liegt ihr Augenmerk insbesondere auf dem Individualarbeitsrecht und damit auf Kündigungsschutzverfahren, Vergütungsfragen, Abmahnungstatbeständen, dem Zeugnisrecht sowie der Gestaltung von Arbeitsverträgen und Aufhebungsverträgen. Neben der außergerichtlichen Beratung und Betreuung vertritt sie ihre Mandanten auch vor den Arbeitsgerichten und Landesarbeitsgerichten. https://www.linkedin.com/in/elenimpoura
Rechtsanwältin
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