Wirksame Kündigungen trotz fehlerhafter Massenentlassungsverfahren?

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Arbeitsrecht | 25. Januar 2024
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An Deutsch­lands obers­tem Arbeits­ge­richt bahnt sich eine wich­ti­ge Recht­spre­chungs­än­de­rung an: Das BAG signa­li­siert, dass Feh­ler im Anzei­ge­ver­fah­ren von Mas­sen­ent­las­sun­gen bald nicht mehr zur Unwirk­sam­keit von Kün­di­gun­gen füh­ren könn­ten. Für Unter­neh­men wäre das ein gro­ßes Risi­ko weni­ger. Doch das letz­te Wort ist noch nicht gespro­chen. 

Der 6. Senat des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) beab­sich­tigt, sei­ne bis­he­ri­ge Recht­spre­chung zu den Fol­gen feh­ler­haf­ter Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­gen auf­zu­ge­ben. Soll­te es dazu kom­men, wäre eine im Rah­men einer Mas­sen­ent­las­sung aus­ge­spro­che­ne Kün­di­gung, der  kei­ne oder eine  feh­ler­haf­te Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge an   die Bun­des­agen­tur für Arbeit vor­aus­ging, künf­tig nicht mehr unwirk­sam.

Sicher ist das noch nicht, denn der Senat kann das nicht allein ent­schei­den. Weil er damit von der Recht­spre­chung des 2. Senats des BAG abwei­chen wür­de, hat der 6. Senat per sog. Diver­genz­an­fra­ge dort ange­fragt, ob der 2. Senat an sei­ner Rechts­auf­fas­sung fest­hal­ten will. Der 2. Senat ist näm­lich seit 2012 (Urt. v. 22.11.2012 ‑2 AZR 371/11) der Ansicht, dass ein feh­ler­haf­tes Mas­sen­ent­las­sungs­ver­fah­ren bei Erklä­rung einer Kün­di­gung zu deren Unwirk­sam­keit führt.

Sofern der 2. Senat sei­ne Recht­spre­chung nicht auf­ge­ben möch­te, kommt der Gro­ße Senat zum Zuge. Er ent­schei­det, wenn ein Senat in einer Rechts­fra­ge von der Ent­schei­dung eines ande­ren Senats oder des Gro­ßen Senats abwei­chen will. Dem Gro­ßen Senat gehö­ren aus jedem Senat ein Berufs­rich­ter, unter ihnen die Prä­si­den­tin des BAG, sowie je drei ehren­amt­li­che Rich­ter aus Krei­sen der Arbeit­neh­mer und Arbeit­ge­ber an.

 

Mas­sen­ent­las­sung ohne Anzei­ge an die BA

In dem Revi­si­ons­ver­fah­ren, in dem es nun zur Diver­genz­an­fra­ge kommt, hat der 6. Senat des Bun­des­ar­beits­ge­richts dar­über zu ent­schei­den, ob eine betriebs­be­ding­te Kün­di­gung nich­tig ist, weil das beklag­te Unter­neh­men die erfor­der­li­che Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge gegen­über der Bun­des­agen­tur für Arbeit nicht erstat­tet hat, wie es nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG nötig gewe­sen wäre.

Der kla­gen­de Arbeit­neh­mer war seit 1994 bei dem Unter­neh­men tätig, über des­sen Ver­mö­gen im Dezem­ber 2020 das Ver­mö­gen das Insol­venz­ver­fah­ren eröff­net wur­de. Das Unter­neh­men kün­dig­te sein Arbeits­ver­hält­nis mit Schrei­ben vom 2. Dezem­ber 2020 zum 31. März 2021. Bin­nen 30 Tagen ent­ließ das Unter­neh­men, das damals mehr als 20 und weni­ger als 60 Mit­ar­bei­ter  hat­te, zudem mehr als fünf wei­te­re Mit­ar­bei­ter, so dass eine sog. Mas­sen­ent­las­sung vor­lag. Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG hät­te der Arbeit­ge­ber also vor Aus­spruch der Kün­di­gung die Agen­tur für Arbeit infor­mie­ren müs­sen (sog. Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge). Der Arbeit­neh­mer erhob des­halb Kün­di­gungs­schutz­kla­ge und mach­te gel­tend, dass die aus­ge­spro­che­ne Kün­di­gung nich­tig sei.

Seit­dem prü­fen die Gerich­te die Wirk­sam­keit sei­ner Kün­di­gung, und das gestal­tet sich nicht ein­fach. Obwohl schon in der höchs­ten deut­schen arbeits­ge­richt­li­chen Instanz ange­kom­men, muss­ten die Pro­zess­par­tei­en schon zuvor war­ten, weil der 6. Senat des BAG in einem ande­ren Ver­fah­ren, das die­sel­be Rechts­fra­ge betraf, den Euro­päi­schen Gerichts­hof (EuGH) ange­ru­fen hat­te. Der EuGH ent­schied dann, dass die der deut­schen Vor­schrift zugrun­de­lie­gen­de euro­päi­sche Anzei­ge­pflicht in der euro­päi­schen Mas­sen­ent­las­sungs-Richt­li­nie 98/59/EG (MERL) nicht den ein­zel­nen Arbeit­neh­mer als Indi­vi­du­um schüt­ze, son­dern eher eine funk­tio­nie­ren­de Vor­be­rei­tung bei den zustän­di­gen Behör­den sicher­stel­len sol­le.

 

Mas­sen­ent­las­sungs­ver­fah­ren könn­ten rechts­si­che­rer wer­den

Der 6. Senat änder­te dar­auf­hin sei­ne Rechts­auf­fas­sung, sodass für ihn Feh­ler im Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge­ver­fah­ren nicht zur Nich­tig­keit einer Kün­di­gung nach § 134 BGB füh­ren.  Ohne indi­vi­du­al­schüt­zen­den Cha­rak­ter der Anzei­ge­pflicht kön­ne ein Ver­stoß gegen die­se nach deut­schem Recht kein Ver­bots­ge­setz im Sin­ne von § 134 Bür­ger­li­ches Gesetz­buch sein, also kei­nen Ein­fluss auf die Wirk­sam­keit der spä­te­ren Kün­di­gung des ein­zel­nen Arbeit­neh­mers haben.

Vor­sorg­lich weist der 6. Senat in sei­nem Vor­la­ge­be­schluss vom 14. Dezem­ber 2023 dar­auf hin, dass er sei­ne Beden­ken gegen das aktu­el­le Sank­ti­ons­sys­tem nur für Feh­ler des Arbeit­ge­bers im Anzei­ge­ver­fah­ren und nicht im Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren äußert. Das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren eröff­net dem Betriebs­rat die Mög­lich­keit, dem Arbeit­ge­ber kon­struk­ti­ve Vor­schlä­ge zu unter­brei­ten, um Mas­sen­ent­las­sun­gen zu ver­hin­dern oder zu beschrän­ken. Im Unter­schied zum Anzei­ge­ver­fah­ren ist also beim Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren ein Ein­fluss des Betriebs­rats auf die Wil­lens­bil­dung des Arbeit­ge­bers inten­diert. Macht der Arbeit­ge­ber also im Rah­men von Mas­sen­ent­las­sun­gen Feh­ler bei der Betei­li­gung des Betriebs­rats, bleibt es nach Ansicht aller Sena­te dabei, dass die Kün­di­gun­gen nich­tig sind.

Das Ver­fah­ren wur­de, wie auch zwei wei­te­re Ver­fah­ren des 6. Senats, Az. 6 AZR 155/21 (B) und 6 AZR 121/22 (B),  die die­se Rechts­fra­ge betref­fen, nun aus­ge­setzt, bis der 2. Senat und dann mög­li­cher­wei­se der Gro­ße Senat ent­schei­den. Soll­ten sie die Recht­spre­chungs­än­de­rung tat­säch­lich voll­zie­hen, wür­de das Risi­ko unwirk­sa­mer Kün­di­gun­gen im Rah­men von Mas­sen­ent­las­sungs­ver­fah­ren für Arbeit­ge­ber erheb­lich redu­ziert wer­den.

 

Ele­ni Mpou­ra ist bei SNP Schla­wi­en als Rechts­an­wäl­tin im Bereich Arbeits­recht tätig. Sie  berät und ver­tritt arbeits­recht­li­che Man­da­te sowohl auf Arbeit­ge­ber- als auch auf Arbeit­neh­mer­sei­te zu allen Fra­gen des indi­vi­du­el­len und kol­lek­ti­ven Arbeits­rechts. Hier­bei liegt ihr Augen­merk ins­be­son­de­re auf dem Indi­vi­du­al­ar­beits­recht und damit auf Kün­di­gungs­schutz­ver­fah­ren, Ver­gü­tungs­fra­gen, Abmah­nungs­tat­be­stän­den, dem Zeug­nis­recht sowie der Gestal­tung von Arbeits­ver­trä­gen und Auf­he­bungs­ver­trä­gen. Neben der außer­ge­richt­li­chen Bera­tung und Betreu­ung ver­tritt sie ihre Man­dan­ten auch vor den Arbeits­ge­rich­ten und Lan­des­ar­beits­ge­rich­ten.  https://www.linkedin.com/in/elenimpoura

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