Massenentlassungsverfahren - Wird es nun zur anbahnenden Rechtsprechungsänderung kommen?

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Arbeitsrecht | 21. Juni 2024
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Bevor der 2. Sen­at des Bun­de­sar­beits­gerichts die an ihn gerichtete Diver­gen­zan­frage des 6. Sen­ats beant­wortet, hat er zunächst den Gericht­shof der Europäis­chen Union zur Beant­wor­tung entschei­dungser­he­blich­er Vor­fra­gen ersucht. Der 2. Sen­at hat daraufhin reagiert und in Ergänzung der Fra­gen des 6. Sen­ats nachgelegt.

 

Was ist bish­er geschehen?

Im konkreten Fall stre­it­en die Parteien über die Auflö­sung ihres Arbeitsver­hält­niss­es durch eine ordentliche Kündi­gung, die der Arbeit­ge­ber im Dezem­ber 2020 zum 31. März 2021 erk­lärt hat. Eine nach § 17 Abs. 1 KschG erforder­liche Masse­nent­las­sungsanzeige hat­te er nicht erstat­tet. Auch wurde diese während der Kündi­gungs­frist nicht nachge­holt. Der 6. Sen­at des Bun­de­sar­beits­gerichts, der für die Entschei­dung dieses Ver­fahrens zuständig ist, möchte die Kündi­gungss­chutzk­lage des Arbeit­nehmers abweisen. Er möchte zukün­ftig die Recht­san­sicht vertreten, dass das Fehlen oder die Fehler­haftigkeit ein­er nach nationalem Recht oder Union­srecht erforder­lichen Masse­nent­las­sungsanzeige nicht zur Unwirk­samkeit ein­er erk­lärten Kündi­gung führt. Auf­grund der Mei­n­ungsver­schieden­heit mit dem 2. Sen­at des Bun­de­sar­beits­gerichts, welch­er bish­er angenom­men hat, dass eine ohne notwendi­ge vorheri­gen Masse­nent­las­sungsanzeige erk­lärte Kündi­gung unwirk­sam ist, musste der 6. Sen­at dem 2. Sen­at die Diver­gen­zan­frage stellen, ob er an seine bish­erige Recht­sprechung noch fes­thal­ten will.

 

Reak­tion des 2. Sen­ats im Anfragev­er­fahren

Mit Beschluss vom 1. Feb­ru­ar 2024 – 2 AS 22/23 (A) hat der 2. Sen­at des Bun­de­sar­beits­gerichts das Anfragev­er­fahren aus­ge­set­zt und den Gericht­shof der Europäis­chen Union um Beant­wor­tung bes­timmter Fra­gen zur Ausle­gung des Union­srechts ersucht. Grund dafür ist, dass der 2. Sen­at die Diver­gen­zan­frage, dass das Fehlen oder die Fehler­haftigkeit ein­er Masse­nent­las­sungsanzeige keinen Ein­fluss auf die Beendi­gung des gekündigten Arbeitsver­hält­niss­es hat, nicht mit Union­srecht vere­in­bar sieht. Für den 2. Sen­at ist entschei­dend, ob der Arbeit­ge­ber von ein­er nach Union­srecht erforder­lichen Masse­nent­las­sungsanzeige ganz abge­se­hen hat oder eine solche (wenn auch fehler­haft) erstat­tet hat. Denn hat der Arbeit­ge­ber von ein­er Masse­nent­las­sungsanzeige ganz abge­se­hen, möchte der 2. Sen­at die Auf­fas­sung vertreten, dass die Rechtswirkun­gen der aus­ge­sproch­enen Kündi­gung erst dann Wirkung ent­fal­tet, wenn der Arbeit­ge­ber die Masse­nent­las­sungsanzeige bei der Bun­de­sagen­tur für Arbeit nach­holt und der Bun­de­sagen­tur für Arbeit eine notwendi­ge Vor­bere­itungszeit zur Ver­fü­gung ste­ht. Nach nationalen Recht ist dieser Zeitraum von einem Monat in § 18 Abs. 1,2 KschG bes­timmt (sog. Ent­las­sungssperre). Die Union­srechtliche Par­al­lelvorschrift hierzu find­et sich in Art. 4 MERL.

Der 2. Sen­at ver­ste­ht diese Vorschrift anders als der 6. Sen­at. Er geht davon aus, dass das gekündigte Arbeitsver­hält­nis im Rah­men ein­er anzeigepflichti­gen Masse­nent­las­sung vor Ablauf der Ent­las­sungssperre nicht been­det sein kann. Sofern nach dieser union­srechtlichen Vorschrift nicht die Möglichkeit bestünde, eine unterbliebene Masse­nent­las­sungsanzeige nachzu­holen, käme dies der Unwirk­samkeit der Kündi­gung gle­ich, sodass der 2. Sen­at die Diver­gen­zan­frage des 6. Sen­ats damit beant­worten müsste, dass er an sein­er bish­eri­gen Recht­sprechung fes­thält.

Da die § 17,18 KschG von den nationalen Gericht­en union­recht­skon­form auszule­gen sind, ist es für den 2. Sen­at unumgänglich den EuGH im Vor­abentschei­dungsver­fahren zu ersuchen, um die Antwort zu erhal­ten, wie die Unionsvorschrift auszule­gen ist.

 

Die ergänzende Vor­lage des 6. Sen­ats

Auf den Vor­lagebeschluss des 2. Sen­ats ( 2 AS 22/23 (A)) hat der 6. Sen­at nun mit Beschluss vom 23. Mai 2024 – 6 AZR 151/22 (A) reagiert und den EuGH um die Ausle­gung des Union­srechts u.a. dazu ersucht, ob der Zweck der Masse­nent­las­sungsanzeige erfüllt ist, wenn die Agen­tur für Arbeit eine fehler­hafte Masse­nent­las­sungsanzeige nicht bean­standet und sich damit als aus­re­ichend informiert betra­chtet.

Er sieht sein Vor­lagev­er­fahren für erforder­lich, da das nationale Recht keine aus­drück­liche Sank­tion vor­sieht, wenn ein Arbeit­ge­ber keine oder eine fehler­hafte Masse­nent­las­sungsanzeige erstat­tet hat.

Unab­hängig davon hegt der 6. Sen­at auch Zweifel an der Vor­lage­fähigkeit des 2. Sen­ats, da dieser sein­er Mei­n­ung nach, die Voraus­set­zun­gen für die Vor­lage an den EuGH in dieser Sache nicht erfüllt. Einigkeit beste­ht jedoch darin, dass der 2. Sen­at die Diver­gen­zan­frage des 6. Sen­ats nicht beant­worten kann ohne dass der EuGH die Ausle­gung des Union­srechts beant­wortet. Aus diesem Grund sah sich der 6. Sen­at gehal­ten, die ergänzende Vor­lage dem EuGH zu stellen.

Es bleibt nun abzuwarten, wie der EuGH über das Vor­abentschei­dungser­suchen bei­der Sen­ate entschei­den wird und welche Kon­se­quen­zen sich hier­aus für die Entschei­dung der Diver­gen­zan­frage ergeben. Ob es zu ein­er Recht­sprechungsän­derung im Rah­men des Masse­nent­las­sungsver­fahrens kommt, bleibt weit­er­hin offen.

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